Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Ich Schüler, ich Lehrer, ich Pfarrer, ich...

∞  27 März 2010, 16:19

Die Zeitungen sind voll. Und auch hier beschäftige ich mich einmal mehr mit dem aktuellen Thema: Kindsmissbrauchsfälle – und deren Behandlung durch uns. Denn wir sind am Ende “die Öffentlichkeit”.
Mir ist nicht behaglich zumute. Und ich fürchte, dieses ungute Gefühl beruht auf ein wenig anderen Wahrnehmungen, als sie gemeinhin jetzt ins Feld geführt werden.

Es fällt auf, dass alle diese Fälle, die nun diskutiert werden und über die wir uns entsetzen, lange bis sehr lange zurück liegen. In diesem Zusammenhang wird immer wieder angeführt, dass die Opfer viele Jahre brauchen, bis sie darüber reden können. Ja. Wie gut ist das zu verstehen!
Der Medienkonsum suggeriert allerdings, dass wir inmitten einer aufbrechenden Irrflut von Abgründigkeiten leben würden. Thematisiert wird aber eine Welt, welche die meisten von uns noch kennen. Entweder aus eigener Anschauung oder aus der Erzählung der Eltern. Mein Flötenunterricht in der Unterstufe endete damit, dass das Instrument in zwei Teile brach – an meinem Kopf. In Thinkabouts Wife’ Umkreis gab es eine Lehrerin, welche sich alle zwei bis drei Wochen eine Schülerin, einen Schüler übers Knie zu legen pflegte.
Ob das geschadet hat? Wahrscheinlich, aber es war “Praxis”. Immerhin war ich fortan vom Flötenunterricht befreit. Die Episode hatte für mich Gutes, denn ich hatte diese Stunden gehasst. Unmusikalisch bin ich freilich geblieben. Dafür habe ich mehr Fussball gespielt und spielen können. Entscheidend wohl: Ich fühlte mich nicht ungerechter behandelt als andere. Meine körperliche Integrität war verletzt, es war unrecht. Ich wusste das und spürte – wohl entscheidend – auch das schlechte Gewissen des Lehrers.
Was mich also umtreibt in der aktuellen Debatte, ist etwas anderes, ein anderer Verdacht: Ich glaube, dass wir kompensieren: Es lässt sich trefflich sich empören über diese Vorfälle, denn sie liegen ja weit zurück. Wir alle aber dürften wohl fühlen, dass wir ganz aktuell, im Heute, nicht wirklich genügend grosse Sicherheiten haben, dass sich ähnliches nicht vollzieht. Manchmal dürfte die Aufregung umgekehrt eine zu grosse sein. Wir pflegen gern in eine Überaufmerksamkeit zu rutschen: Eltern, welche kaum mehr Zeit für ihre Kinder haben, sie häufig abgeben, aber auf dem Weg in die Nachhilfe, ins Ballett, zum Sport, Kindergeburtstag etc. überall hin fahren, auf dass ihnen nichts geschehen möge, führen Grundsatzdebatten über die Pädagogischen Aufgaben der Schule. Die Selbstverwirklichung und Eigenidentität als Mann und Frau hat die Vaterrolle und die Mutterrolle mit auf der Rechnung – aber wie sehr steht sie im Zentrum? Und in alledem stellt sich vor allem die eine Frage: Wie leben wir unsere Sexualität? Was an ihr ist normal, was geheimnisvoll? Was erwarten wir von ihr, welche Rolle nimmt sie ein, was dichten wir ihr an – oder was sprechen wir ihr ab? Was erwarten wir von ihr und wo liegt unsere eigene Identität in unserem Körper? Und wie sehr schaffen wir es, unsere Kinder zu selbstbewussten Menschen zu erziehen, sie dazu ermuntern zu können, NEIN zu sagen? Oder wann darf es für den jungen Mann und die junge Frau ein JA sein, weil es selbstbestimmt ist und in sich gefühlt?
Welches Verhältnis haben wir zu Autorität? Können wir es selbst vorleben, auch unbequem sein, uns unbeliebt machen?

Die Debatten sind wichtig. So lange wir aber über die katholische und andere Kirchen, über reformpädagogische Gruppendynamiken in Alternativschulen etc. diskutieren, machen wir Gesellschaftspolitik. Aber dann brechen wir nichts auf die Ebene der heutigen Kinder und der bestmöglichen Erziehung hinunter – und missbrauchen die Opfer ebenfalls. Indem wir auch wenig bis nichts für Gegenwart und Zukunft ändern. Denn am Ende geht es darum, wie wir Autorität und Respekt verstehen, vorleben und weitergeben können – auch und gerade in Fragen der sexuellen Intimität. Richtig spannend würde es doch werden, spannend, lehrreich und in die Gegenwart führend, wenn Eltern, Pfarrer, Lehrer und Kinder von heute Artikel schreiben würden, welche mit “Ich…” beginnen.