Mein Schreiben. Täglich.

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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Haben Sie sich von Ihren Menschenrechten schon verabschiedet?

∞  16 Mai 2008, 21:04

Thema der Sendung waren die Olympischen Spiele in Peking und die Tibet-Frage, angestossen durch den aktuellen Besuch des Dalai Lama in Deutschland und das Verhalten der Politiker hierzu. Wieder einmal hatte ich mich dazu aufgerafft, den Kasten für etwas anderes als Sport zu starten, und tatsächlich:

Gestern Abend muss ich für mehr als einen Moment mit offenem Mund vor dem Fernseher gesessen haben. Und dann habe ich es mich sagen hören: Das ist ein Skandal!

Aber es gab keine Aufschreie im Publikum bei Maybrit Illner, keine Entrüstung unter den Antipoden in der Runde. Vielleicht waren ja alle zu erschöpft…?

Es hatte der Herr Martin Posth, seines Zeichens ex-VW-Manager und heute Ehrenbürger von Shanghai, wieder einmal das Wort ergriffen, und soeben verkündet:

Wir im Westen hätten einzusehen, dass die Zeit gekommen wäre, uns von unserem Verständnis der Menschenrechte zu verabschieden.


Die Begründung, die er dafür zu bieten hatte, war schlicht, dass jeder fünfte Mensch der Erde ein Chinese sei. Punkt.
Ich denke das mal ein bisschen weiter: Dieser Wirtschaftsvertreter und ehemalige Personalvorstand stellte die Menschenrechte als eine Art Idee vor, die keinerlei objektive Massstäbe kennen würde. Von der subjektiven Idee ist es nicht weit bis zur Gefühlsduselei, und am Ende bleibt nur der Furz einiger weltfremder Utopisten.

Guckt Euch doch die Chinesen an: Die wollen Wohlstand und schuften wie die Berserker dafür. Etwas anderes interessiert sie nicht. Und der Stärkste befielt.

Dieser Mann litt die ganze Diskussions-Stunde hindurch mindestens so wie ich. Das war an seinen gequälten Gesichtszügen leicht zu erkennen. Ich nenne diese Art Wirklichkeits-Wahrnehmung das Masters-Of-The-Universe-Syndrom: VW wird dieses Jahr erstmals eine Million Fahrzeuge in China selbst produzieren und hat damit die Nase unter allen ausländischen Autoherstellern weit vorn. Der wirtschaftliche Erfolg, die Dynamik, die darin liegt, fegt alles weg, was neben den Gesetzen des Marktes ursprünglich noch Bodenhaftung versprach. Die Welt liegt gewissen Herren zu Füssen, und so schöpft man davon ab, so lange der Rausch dauert. Es mag sogar sein, dass der gespürte Opportunismus der chinesischen Geschäftspartner, die das Knowhow binden wollen, ein paar Menschenrechtsfragen zulässt und ihnen gar ein Kopfnicken gönnt, oder zumindest ein verzeihendes Lächeln. Was beeindruckt und mitreisst, ist aber der Fleiss, die Dynamik und die Macht, mit der sich ein Milliardenvolk nach oben stemmt – oder zumindest der Teil, mit dem Herr Posth Berührungspunkte hat.

Lieber Herr Posth: Die Werte der Demokratie und der Menschenrechte – und diese beiden Konzepte gehören zusammen – sind objektiv. Der Chinese mag es gewöhnt sein, geschlagen zu werden, während ich nur die Augenbraue heben muss, wenn sie Gleiches mit mir versuchen wollen. Der Schlag aber tut uns allen weh. Oder tat es, als es der erste war. Alle Menschen leiden unter körperlicher Gewalt, alle Menschen wollen frei sein, alle Menschen haben ein Recht darauf, und wenn sie davon wissen, dann wollen sie auch davon kosten.

Es mag in China langsamer gehen müssen als in anderen Ländern – aber die Menschenrechte sind überall rechtens. Und zwar die gleichen. Sie sind vielleicht gesellschaftlich nicht verankert, nicht durchsetzbar, ihr Fehlen mag man erklären können – die Menschen aber leiden als menschliche Wesen, als unsere Brüder und Schwestern. Wenn Sie, Herr Posth, hier Unterschiede machen, dann sind sie ein Herrenmensch, und Ihnen ist zutiefst zu misstrauen.

Und: Indem Sie voreilig dem dynamischeren Partner noch zusätzlich Holz in den Ofen schieben, fördern sie tatsächlich das Ungleichgewicht zwischen den Kontinenten und tragen dazu bei, dass Ihre Werksangehörigen in Wolfsburg mit immer schwächeren Grundlagen für den Existenzunterhalt kämpfen – gerade eben, weil so manches arbeitsrechtlich lästige Detail in einer Produktionskette andernorts vernachlässigbar bleibt, weil alles käuflich ist. Vor allem das billigere Auto made in China.