Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Gesucht wird das ehrliche Wort. Wirklich?

∞  16 September 2011, 21:33

Wie lange hören Sie – nach Ihrem Zeitgefühl – die neuen Schlagworte schon?
Eurokrise, Finanzkrise, Schuldenkrise, Bankenkrise.


Die Themen gleichen sich, die Aussagen auch. Es muss gespart werden. Doch in den Streitigkeiten, wer wieviel und wegen wessen Schuld, verplänkeln sich alle in politischen Spiegelfechtereien. Manchmal frage ich mich, welcher Druck eigentlich für einen Politiker grösser sein mag? Die drohende Abwahl – oder das Bangen um die Gunst von Wirtschaftskreisen?

Nicht nur in meinen Ohren tönen die Statements aus Brüssel nur noch handzahm, von Politikern am Gängelband involvierter landeseigener Wirtschaftszweige, welche die eigenen Interessen zur nationalen Frage machen. “Entschlossen” sei man, heisst es am Sitz der europäischen Bürokratie. Man mag nicht mal mehr lachen.

Wo ist der Politiker, der hinsteht und schonungslos offenlegt, wie die Sache steht? Dass die grosse Idee eines auch nur wirtschaftlich gemeinschaftlich orientierten Europas verloren ist? Dass nichts anderes versprochen werden kann als ein langer Weg mit knappen Provianttaschen und einem Schuldenrucksack auf dem Rücken. Das mag nicht für alle EU-Staaten gleichermassen gelten – aber Schulterschlüsse sind erst dann wieder möglich, wenn es meinem Mitwanderer links und rechts genau so ernst ist damit, den Berg zu schaffen.

Die Schreckgespenste, die man bei einem ganz harten Weg an die Wand malt, verfangen auch jetzt noch: Das kostet Arbeitsplätze und bringt Rezession. Damit hat man noch jedes Reformprogramm, jedes Blut-Schweiss- und Tränen-Programm gebodigt bekommen, weil wir alle gerne glauben, mit ein wenig weiter wursteln, nur etwas geschickter, würde man schon über die Runden kommen. Keine einzige Führungsposition stellt sich hin und redet Tacheles. Und damit wird auch nicht angetestet, ob nicht viele geschäftige Europäer sich nicht am Kragen packen liessen und die Herausforderung annähmen, würde man sie denn endlich mal glasklar formulieren: Wir haben Pleite gemacht. Es ist Zeit, neu anzufangen.

Stattdessen riskiert die Politik die totale Entfremdung von den Bürgern – und früher oder später Unmutsäusserungen, die nicht in Zeltstädten enden würden.

Nur: Wo wollen wir denn hin? Was gibt es denn noch an politischen Ideen? Wo sind die Menschen, die in einem politischen Programm, das Verantwortung für ein Gemeinwohl mit einschliesst, nicht reine Phantasterei sehen?

Wir haben mit dem Wegfall der konkurrenzierenden politischen Ideologien den Bezug zu unserem Wertesystem verloren. Der Überhebliche aber ist der erste Verlierer. Er zerstört sich selbst und wird zum Räuber der Errungenschaften seiner vorherigen Generationen. Während er sich sorgt, dass es für sein eigenes Alter niemanden mehr geben wird, der für ihn arbeitet…

Wir formulieren nur noch Ansprüche. Keiner von uns hat je so geschuftet wie unsere Grosseltern. Wenn wir von “harter Arbeit” reden, dann äffen wir irgendwelche Sportstars nach, die im Erfolg betonen, dass sie eben ein bisschen mehr tun als die anderen – als wäre damit alles zu erklären und wären glückliche Umstände in keiner Weise mit verantwortlich – für jeden Erfolg. Uns fehlt in unserer aktuellen Welt die Demut für das Missgeschick, den Misserfolg, wir glauben jenen, die das System befeuern, dass immer derjenige Recht hat, der etwas besser macht. Dass man sich alles verdienen kann – am Ende auch das grösste Pech.

Es ist uns nicht zu wünschen, dass wir in der kollektiven Masse erleben müssen, dass daran etwas grundlegend falsch ist. Noch haben die meisten von uns Reserven, noch haben wir ein politisches System, das auch nach Minderheiten fragt. Wir sollten uns daran erinnern, dass wir eine Gemeinschaft von Minderheiten sind, dass wir einander brauchen, und dass die Tatsache, dass es für niemanden etwas umsonst gibt, auch für jene gilt, die das feinere Näschen haben als andere – oder den helleren Kopf. Sicherheit, Gemeinschaft und Geborgenheit gibt es nur da, wo ich weiss, dass ich auch Achtung erfahre, wenn ich zu Wenigen unter Vielen gehöre. Nennt sich das Armut, so bin ich nicht wertlos, und bezeichnet das Reichtum, so muss ich deshalb nicht einsam und weltfremd werden und in der Gemeinschaft nur noch den Steueranspruch erkennen.

Wie sagt man den Politikern, dass man nicht belogen werden will? Dass eine ehrliche Aussage vielleicht einen Schock auslöst, es aber eine Beleidigung ist, anzunehmen, wir würden darin erstarren? Wie entdeckt ein im Konsum entschlafenes Bürgervolk neu seinen Stolz, selbst wieder mit verantwortlich werden zu wollen für das eigene Geschick – und das seines Landes?