Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Geschockt – Grosses Wort, kleine Empfindung

∞  22 Oktober 2011, 21:39

Wir können es in den Nachrichten hören, und haben den Ausspruch wohl auch selbst oft sehr schnell auf den Lippen:
Etwas “Schlimmes” geschieht – und wir sind schockiert. Das Wort hat eine inflationäre Häufung erfahren – und nutzt sich dabei ab.


Dabei müssten wir uns doch selbst bei den furchtbarsten Ereignissen immer auch fragen:

Was bedeutet unsere Reaktion? Liegt ein solches Geschehen nicht immer in der Natur des Lebens? Da es keine Garantien auf Unversehrtheit gibt, ist jede Form von Katastrophe immer möglich. In der Art und Weise, wie wir solche Dinge kommentieren, legen wir auch offen, wie weit weg wir von diesem Bewusstsein in unseren sorglosen Alltagsverstrickungen sind.

Besonders störend wird es, wenn wir “schockiert” sind über Dinge, die nach Hörensagen geschehen, also gewissermassen weit weg sind (und im Grunde bleiben). Denn, sind wir ehrlich, kurz nach dem “Schock” hat uns unser Alltag wieder.

Wäre es da nicht viel ehrlicher, tiefgründiger und wertvoller, wir würden das nächste schockierende Ereignis dazu benutzen, uns wieder einmal bewusst zu machen, dass nichts, wirklich rein gar nichts an unserem nächsten guten Tag selbstverständlich ist. Und würde bei uns allen nicht mehr Platz für einen Moment der Trauer bleiben, wenn wir das mit dem Schock ganz speditiv hinter uns liessen und dem Leid wirklich einen Moment Aufmerksamkeit schenken würden? Hinter dem Schock als Sensation steckt unsere eigene Angst – oder die sofort einsetzende Verdrängung eines Verlustes.

Ist dieser Verlust ein tatsächlicher, berührt er mein eigenes Leben, stirbt ein Freund oder geschieht ein Unglück, ein Unfall in meinem engen Bekanntenkreis, so ist doch erst recht “Schock” ein untaugliches Wort. Wir sind bestürzt, aufgewühlt, traurig, hilflos, möchten die Uhr einen Tag zurück drehen und eine Weiche stellen können – und wir hadern mit dem, der es an unserer Stelle nicht getan hat, egal, ob wir überhaupt an ihn glauben.

Und wer schockiert ist über ein bestimmtes Verhalten anderer, das er nicht goutieren mag, ist auch in diesem Urteil oft so vorschnell, wie laut: Niemand muss billigen, was andere tun, und er kann und soll es für sich selbst mit jenen Regeln halten, die ihm Orientierung und Sicherheit geben – und seinen Nächsten mit ihm. Wer aber schockiert ist, möchte am Ende ganz schnell mit anderen im Verbund den Zeigefinger erheben – das kann mich immer wieder mal tatsächlich schockieren – wobei auch ich mit dieser Aussage ganz bewusst schon eine gewisse Polemik ins Spiel bringe – einen Hader, der sich eine Korrektur des Faktischen wünscht…




Der Text ist das neueste Beispiel meiner sog. 10-Minuten-Übungen:
10 Minuten Schreiben zu einem spontan hingeworfenen Stichwort – und es dann so stehen lassen – für 2 Minuten Lesearbeit.
Die bisher entstandenen Texte finden sich gebündelt alle hier