Mein Schreiben. Täglich.

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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Gerechtigkeit ohne Garantieschein

∞  10 Juli 2011, 22:15

Sport bietet oft sehr brutale Metaphern für unsere Ansprüche ans Leben: Wir wollen Gerechtigkeit – und wir haben ja auch beteuert bekommen, dass sich Einsatz lohnt, Geradlinigkeit, Leistung. Alle unsere Gerechtigkeiten beruhen auf Annahmen, an die sich fast alle halten – und ohne die es keine Möglichkeit gäbe, einen grösstenteils einvernehmlichen Codex für unser Zusammenleben durchzusetzen.


Die Viertelfinals der Frauenfussball-WM sind zu Ende. Mit höchst turbulenten Spielen – wobei die letzte Begegnung alles noch auf die Spitze trieb.

Erst mal das Ergebnis: Die USA hat sich in Extremis gegen Brasilien für das Halbfinale qualifiziert, und praktisch alle Zuschauer fanden, dass “die Gerechtigkeit gesiegt hat”. Was war geschehen? Die Amerikanerinnen waren durch ein Eigentor gleich zu Spielbeginn in Führung gegangen – und kassierten in der 68. Minute auf höchst umstrittene Weise den Ausgleich durch Elfmeter:

Der Schuss wurde von der amerikanischen Torhüterin Solo gehalten. Doch die Schiedsrichterin liess den Strafstoss wiederholen – weil sich die Torhüterin zu früh bzw. von der Torlinie nach vorn bewegt haben soll. 99 von hundert gleichen vielleicht tatsächlich regelwidrigen Verhalten werden wohl nicht geahndet. Zum zweiten Versuch trat mit Marta eine neue Spielerin an, was völlig regelkonform möglich ist, und die beste Spielerin der Welt verwandelte sicher zum 1:1. Sie hatte den Penalty auch mit einem wunderbaren Dribbling rausgeholt und damit gleichzeitig den Platzverweis der Verteidigerin für das Foulspiel bewirkt. Es folgte die Verlängerung, in der gleich zu Beginn die Amerikanerinnen das 1:2 kassierten und in danach müde und verzweifelt zu zehnt gegen elf anrannten, in zwei umstrittenen Situationen ihrerseits keinen Strafstoss zugesprochen bekamen. Und dann, in der allerletzten Aktion des Spiels erzielen sie doch noch den Ausgleich.

Elfmeterschiessen. Die USA beginnt. Die brasilianische Torhüterin hält. Doch auch jetzt wird der Strafstoss wiederholt, aus dem gleichen Grund wie im Spiel zuvor. Wieder spitzfindig, aber nun ist es eine scheinbar gerechte Kompensation. In der Wiederholung trifft die Amerikanerin, Solo hält einen Strafstoss und die Amerikanerinnen qualifizieren sich doch noch für den Halbfinal. Brasilien ist ausgeschieden, und mit ihr die Verteidigerin Erika, die eine Verletzung simulierte, um dann putzmunter von der Bahre zu springen und wieder mittun zu können, in einer peinlich plumpen 3. Klass – Schauspiel-Einlage, wie man sie auch selten so offensichtlich vorgeführt bekommt. Also alles gut?

Marta wird das ganz anders sehen: Keine andere Spielerin steht so sehr für die Attraktivität des Frauenfussballs, jede Aktion von ihr hatte Hand und Fuss, sie erzielte zwei Tore, holte den Elfmeter heraus, verandelte ihren Strafstoss im Elfmeterschiessen – und verlor nicht nur mit der Mannschaft. Das gehört dazu. Man ist nur so stark wie das Kollektiv. Aber sie musste sich als Projektionsfläche für die Zuschauer hergeben, welche nichts Gescheiteres wussten, als eben diese Spielerin in jeder Aktion nach dem Ausgleich bis zum Spielschluss gnadenlos auszupfeifen.

Marta wird erneut ohne Titel bleiben – und sich ganz bestimmt und zu recht ungerecht behandelt fühlen. Es gibt Gerechtigkeiten, die sich verwehren, oder die über uns kommen. Was uns recht geschieht, beurteilen wir aber immer aus der momentanen Situation heraus. Wir fordern Garantien, Ereignisse, die wir uns zurecht kombinieren, mit einem ganz kurzen Horizont. Aber genau so, wie es keinen Anspruch auf ein langes Leben gibt, ist ein solcher für Glück und Erfolg vorhanden. Es gibt keine Garantie auf die Gerechtigkeit. Nur ein Recht darauf, aus jeder Situation das beste zu machen. So wie jene Mannschaftskollegin von Marta, die nicht nur das Eigentor schoss, sondern als Einzige auch noch im Penaltyschiessen verschoss. Sie könnte im Boden verkriechen. Offenbar hat sie Schuld, denn tatsächlich hat sie Fehler gemacht. Und die Folgen sind eingetreten. Aber hat sie das auch verdient?

Alle Akteure werden immer wieder persönliche Bilanzen über ihr Leben erstellen, wie wir alles. Im Nachhinein wird der heutige Abend nicht für alle Verliererinnen so bitter erscheinen, wie sie jetzt glauben – und nicht alle Siegerinnen werden sagen können, sie würden diesen Abend gegen nichts austauschen, was ihnen sonst noch widerfährt.

Das Leben garantiert Lehrblätze. Auf Schritt und Tritt. Ein Recht auf den Erfolg, den glücklichen Moment, gibt es nicht. Und es gehört wohl zur Lebensprüfung, dass wir alle Momente erfahren, in denen sich alles scheinbar gegen uns verschwört. Ob wir am Schluss gewinnen oder verlieren – wir mögen uns dafür Begründungen basteln, die auch nie wirklich falsch sein müssen – aber sie sind eben nur ein Teil der Wahrheit. Etwas zu lernen gibt es allerdings immer. Und damit lässt sich dann auch weiter machen. Und besser werden. Und besser damit umzugehen, dass besser zu werden, manchmal auch nicht ausreicht.