Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Gemüts-Meteo

∞  23 März 2007, 20:39

Heute wäre eigentlich ein neuer stiller Tag der Ruhe und der Pflege angesagt gewesen – aber das Wetter wollte es anders. Oder doch nicht? Meine Physio war nicht möglich, und nicht nur ein paar philosophische Gedanken wurden vom metallischen Schnarren der eigenen Schneeschaufel auf dem grobporigen Asphalt verlärmt.

Plötzlich fanden wir einander auf der Strasse:
Der Nachbar, der sich fürs Schippen bedankt und sich dann durch die Schneemaden kämpft, der Kurier, der trotz dreissig Zentimeter Neuschnee Freundlichkeit an die Tür bringt, die Nachbarinnen, die sich zum spontanen Spaziergang auf den Üetliberg zusammen finden, der Handwerker, der auch heute seine Arbeit hat und dabei aus dem Fenster blickt, als würde der Schnee vor der Tür aus Zuckerwatte bestehen.

Nur der Beizer von nebenan ist auch heute vor allem Chef, setzt seinen Audi mit Wucht in die Schneemade und gräbt sich dann mit Vollgas in seine Borniertheit hinein, bis kein Weg mehr nirgendwohin offen steht.

Es dauert eine geschlagene Viertelstunde, bis er aussteigt: Just dann, als sein Küchenbursche daher gestapft kommt, um ihn mit der Schaufel aus dem Tiefschnee zu befreien. Das wartet er aber nicht ab. Er stapft mit drei Broten unter dem Arm davon, dick eingepackt, den dicken Wollschal um den Hals drapiert, während sein Angestellter in Halbschuhen und Hochwasserhosen zögerlich und stelzend wie ein Flamingo einen Fuss vor den anderen in den Tiefschnee setzt, die Blechtrophäe seines Brötchennehmers, äh -gebers langsam umrundend. Eine Viertelstunde später ist der Herr Chef wieder da. Pünktlich genug, um seinen Wagen drei Meter vor auf den nun freien Parkplatz zu setzen. Ich habe alle Zeit der Welt, mir die Szene vom Küchenfenster aus anzusehen, denn meine eigene Havarie besteht nur aus einem zerschlagenen Vorhaben. Der Schnee hat mir nichts geraubt. Der Tag gehört eh mir und es liegt nur an mir, was ich daraus mache. Und ich trinke gerade Kaffee, ausgiebig, und schaue den fallenden Flocken zu, stelle mir vor, wie ich mit jeder von ihnen zur Erde fiele, wie ich hängen bliebe an einem Ast, schmelzte auf der Haut, mich verfinge im Fell des Dackels, der ziemlich wirsch durch den Schnee gezogen wird.

Ich beschliesse, heute ein Meteo-Communiqué meines Gemüts zu verfassen, mich beobachtend durch den Tag, und so wird der Schnee zu meinem Begleiter. Mir fällt wieder einmal auf, wie alle Geräusche ihre Schärfe verlieren. Auch die eigene Stimme trägt nicht so weit. Dafür ist der Kopf frei, denn die Luft ist kühl, aber nicht kalt, und der Schnee nimmt der Feuchtigkeit in ihr die unangenehme Nässe.
Das Atmen ist keine Qual. Es ist, als benetzte der Schnee meine Schleimhäute wie Tau, der Blütenblättern vom neuen Tag erzählen will. Am frühen Morgen fällt der Schnee dicht, und es ist, als wollte er sich selbst überzeugen, dass, wenn er nur weiter fiele, er ganz sicher niemals ein Ende nehmen müsste.

Die durch den Schnee stapfenden Menschen sind nur Schemen im Gestöber, Protagonisten einer Kreidezeichnung, die Schatten und Licht verwischen lässt. Alle bewegen sich langsam, vorsichtiger als sonst. Es ist, als würde das Problem des eigenen Vorwärtskommens, des eigenen nächsten Schrittes so manch anderes nebensächlich machen. Es scheint vielen dieser Menschen ganz gut zu bekommen. Erstaunlich, dass niemand missmutig wirkt.

Ich räume mein Auto aus. Es hat bald ausgedient, wird ausgetauscht. Vor der Garage höre ich Wasser tropfen. Es taut. Der Schneefall hat aufgehört. Bald kann ich ohne Schwierigkeiten ins Dorf fahren. Herrlich, wenn es keine Rolle spielt, ob die Uhr zwölf schlägt oder zwei. Ich behalte die Langsamkeit des Morgens bei. Der Schneepflug schnarrt vorbei. Er wird nicht wieder kommen.

Ich gehe in die Wohnung. Vor dem Fenster legen die Singvögel die Köpfe zur Seite. Der Futterplatz ist wieder zugänglich. Das Leben arrangiert sich.

Ich fahre ins Dorf. Der Garagist kommt auch heute gerne ins Gespräch. Warum sollte er es ausgerechnet heute anders halten? Wir machen unser Geschäft, auf einem Skizzenblock mit Durchschlag, handgekritzelt, mit Handschlag und mit einem offenen Blick in die Augen des andern.

Es folgt mein Gang zu meinem Lieblingskonditor. Ein Ritual für den Freitag. Herrlich ist das Leben. Ich zwänge mich am Ortsbus vorbei, die Schneemaden am Seitenspiegel. Wir geben uns Handzeichen, der Busfahrer und ich. Sonst haben wir jeweils keinen Blick für einander…

Im Laden gebe ich Trinkgeld, nur ein bisschen, wie immer, und ein Lächeln, wie leider nicht immer, und es wird gern genommen, beides, aber ich glaube, heute ist das Lächeln etwas mehr wert.

Dann fahre ich nach Hause. Entschlossen, mir meine persönliche Sicht der Welt an diesem schönen Tag einfach nicht nehmen zu lassen. Es beginnt wieder zu schneien. Aber es ist nicht viel mehr als ein Stubser, eine Flocke, die auf der Nasenspitze schmilzt, wie ein Adieu, bis zum nächsten Mal.

Als ich die Treppe hoch steige, erinnere ich mich, dass ich den ganzen Weg über das Autoradio nicht angemacht habe. Ein stiller Tag war es irgendwie also trotzdem, obwohl ich nicht wie sonst losgezogen bin ohne Ziel.

Ein sehr lebendiger Tag war es. Einer, der nicht extra geschaffen werden müsste, den ich immer wieder zelebrieren könnte. Jeder Tag kann dafür geeignet sein. Es braucht nur die persönliche Ruhe und Gelassenheit, ihn zu erkennen.

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