Mein Schreiben. Täglich.

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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Fremd bleiben in seiner Welt

∞  23 Oktober 2011, 23:07

Jugend in der Fremde: Was ein Hin und Her zwischen Orten und Bezugspersonen alles fremd und fern werden lässt – und wie sehr das bleibt.


Was braucht ein kleiner Junge, um sich geborgen zu fühlen? Eine rhetorische Frage, ich weiss. Es liegt im Grunde auf der Hand.

Ich hatte heute Besuch. Ein alter Mann erzählte mir von seinem Leben, und dass er unbedingt im nächsten Monat in “seine” Stadt fahren wolle. Dort, in der Fremde, ortet er die lebendigste, ehrlichste Art eines Daheims, die er als Knabe erleben durfte. Knapp drei glückliche Jahre einer ansonsten gestohlenen Kindheit, eine Zeitinsel, in der man sich um ihn kümmerte und sich für ihn interessierte.

Es hat auch schon anders aus dem gleichen Herzen und Mund geklungen, aber ich denke, das ist ein Teil der ganzen Problematik, mit dem solche Menschen, die in ihrer Jugend zwischen verschiedenen Orten umher gereicht wurden, zeitlebens zu kämpfen haben: Allein, dass es geschieht, ist falsch und in seiner Tragweite nicht rückgängig zu machen. Die Erfahrung, fremd zu sein, weg gegeben zu werden in diese Fremde, ist ein unauslöschliches Mahnmal in einer Biographie, die in dieser Zeit jede Erfahrung doppelt tief in sich vergräbt.

Hier geht es um ein Leben, das in zwei Kinderstuben geformt wurde, in denen Verwandte an Stelle der Eltern das Beste für ein im Grunde fremd bleibendes Kind wollten – zumindest haten sie keine Scheu, dies für sich zu reklamieren.

Und es wuchs nicht nur in einem fremden Haus auf. Im Ausland war es das Kind, das die Sprache in der Schule kaum verstand, “zuhause”, im “eigenen” Land wurde es danach für den angenommenen fremden Akzent gehänselt. Und die Lehrer waren damals auch selten wirklich eine Hilfe…

Mir kam beim Zuhören der Gedanke, wie grossartig wir heute von der notwendigen Integration der Ausländer bei uns reden – und vor allem davon, was dafür von diesen Ausländern zu erwarten ist. Wie viel oder wenig tragen wir dazu aus freien Stücken selber bei? Im Dorf, in dem ich wohne, wollte man allen Ernstes Asylbewerbern die Benutzung einer Quartierstrasse untersagen… Aber ich schweife ab:

Was mich an der Erzählung heute besonders berührte, war das Erleben, wie tief diese Erfahrungen bis heute nachwirken, und wie – je nach Stimmung, innerem momentanem Seelengerüst oder konkreter neuer Erfahrung die Wertungen der eigenen Vergangenheit schwanken: Einmal wünscht man sich das Gefühl zurück, in der fremden Stadt wenigstens teilweise der Mittelpunkt einer Familie gewesen zu sein, dann wieder scheut man das Gefühl der Verlorenheit in der dortigen Schule. Mal erzählt es sich leicht von der Arbeit danach in der Schweiz im nächsten Haus, voller Achtung für das gemeisterte Leben der Tanten – um sich dann nach der Wärme zu sehnen, die plötzlich so weit weg war – und niemals mehr wiederkam, auch nur in Ansätzen, so dass man sich den ganzen Rest wenigstens zu einem Luftschloss hätte zusammendenken können. Ein frierendes Kinderherz braucht nur ein Streichholz, um sich schon das grösste Lagerfeuer hinzu zu denken – bis es eines Tages nicht mehr daran glaubt.

Wo auch immer wir junge Seelen um uns haben: Wir sollten den eigenen Narben Sinn geben, indem wir versuchen, echte Hilfestellungen zu leisten. Auf dass solche Menschen ihrerseits Daheims schaffen mögen, in die man selbst gerne zu Besuch kommt und die man sich für jede noch empfindsame Seele wünscht.