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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Freitodtourismus in die Schweiz

∞  8 Oktober 2007, 18:02

[Diesen Artikel habe ich unter dem Titel Zum Sterben in die Schweiz für Readers Edition geschrieben]

Ludwig A. MinelliWeit herum gekommen ist er, der Herr Ludwig A. Minelli, in Deutschland, zu Besuch in Talkshows wie bei Herrn Backes im Nachtcafé zum Beispiel, immer adrett gekleidet, zurückhaltend, aber sicher im Auftreten, unprätentiös schweizerisch eben, gesetzt, ohne grossen Lärm.


Die liberale Schweizer Praxis


Es geht ja auch um ein Thema, das aufwühlt, beschäftigt, aber doch gerne umschifft wird: Das freiwillige Sterben, das für Herrn Minelli ein Menschenrecht darstellt, das es für jeden Menschen zu respektieren gilt und dem Geltung zu verschaffen ist, wenn dem Menschen, der aus anzuerkennenden Gründen aus dem Leben scheiden möchte, dies durch seine persönliche Situation erschwert oder gar verunmöglicht wird. Anzuerkennende Gründe brauchen dabei nicht tödliche Krankheiten zu sein. Es genügt prinzipiell der freie Wille der objektiv urteilsfähigen Person.


Ich kann mich erinnern, wie vor fünfzehn bis zwanzig Jahren schwangere Schweizer Frauen, die sich nicht anders zu helfen wussten, nach Holland pilgerten, um abzutreiben. Wie damals Holland der Ort war, an dem die Verhinderung von Leben respektiert wurde, ist heute die Schweiz das Land mit der liberalsten gesetzlichen Lösung für jene, die das Leben beenden wollen: Hilfe zur Selbsttötung ist erlaubt, wenn sie (die Hilfe) nicht aus selbststüchtigen Beweggründen erfolgt.


Sterbetourismus in die Schweiz


Es gibt in der Schweiz zwei grosse Sterbehilforganisationen. Während bei Exit eine grundlegende Voraussetzung für eine Freitodbegleitung der Wohnsitz des Mitglieds der Organisation in der Schweiz ist, kennt Dignitas diese Beschränkung nicht. Und das Angebot ist gefragt. Aus ganz Europa pilgern sterbewillige todkranke Menschen in die Schweiz. Letztes Jahr wurden laut “NZZ” schon 195 Begleitungen durchgeführt, 120 Mitglieder kamen dabei aus Deutschland.


Die Dienstleistung ist nicht gratis


Um von einer Sterbehilforganisation betreut zu werden, muss man deren Mitglied sein. Gibt es davon immer mehr, wächst der Verdacht, dass damit auch ein einträgliches Geschäft zu machen ist. So hat die “Sonntags-Zeitung” heraus gefunden, dass Ludwig A. Minelli mittlerweile Millionär geworden ist. Ein einträgliches Geschäft zu betreiben, weist Minelli aber weit von sich, denn das könnte den Ex-Journalisten (fast zehn Jahre Schweizer Auslandkorrespondent für den “Spiegel”), der mit über vierzig Jahren noch ein Jus-Studium begann und heute Anwalt ist, in Konflikt mit dem Gesetz bringen. Tatsache sind die Gebühren und Beträge, die erhoben werden:


Dignitas verlangt für die Vorbereitung einer Freitod-Begleitung “zur Deckung des damit verbundenen administrativen Aufwands” einen zusätzlichen Mitgliederbeitrag von 1000 Franken, wie es in den Statuten des Vereins heisst. Ebenso viel ist bei der Durchführung einer Freitodbegleitung fällig. Und wer die Formalitäten mit den Bestattungs- und Zivilstandsämtern Dignitas überträgt, bezahlt weitere 1000 Franken. Unter den Mitgliedern, die jährlich mindestens 50 Franken Beitrag bezahlen, finden sich laut Dignitas auch 95 Beiträge von zum Teil erheblich mehr als 1000 Franken (scheint eine magische Zahl für den Verein zu werden).


In ruhigeren Zeiten, also noch 2004, belief sich das Beitragstotal auf 770’326.13 Franken.


Die Zahl der Freitodbegleitungen hat sich seither nahezu verdoppelt, die Mitgliederzahl dürfte sich vervielfacht haben.


Immer mehr Erfolg, immer weniger Diskretion


Doch mit dem Erfolg der Organisation wachsen die Probleme. Die Diskretion, die Dignitas viel weniger als der Konkurrent Exit sucht, wird je länger je weniger gewahrt. Es wird einfach zu viel am gleichen Ort gestorben: Dignitas hat keinen Ort mehr, an dem sie in den Tod begleiten kann – oder er wird der Organisation immer wieder aufgekündigt. Dabei ist man durchaus flexibel und erfinderisch. Zuerst wurde es den Nachbarn einer 1999 in Zürich-Wiedikion gemieteten Wohnung zuviel, fast täglich Tote im Lift zu haben. Dignitias erhielt im Juli 2007 die Kündigung. Auch die Stadt Zürich verlangte schliesslich für eine Dignitas-Wohnung ein Nutzungskonzept und damit ein Baugesuch für das Sterbezimmer – ein Kniff, um die Organisation los zu werden. Man zog nach Stäfa. Mittlerweile ist die Organisation mehr als das Thema in den Medien ein Dauerthema – die Nachbarn gingen sofort auf die Barrikaden, die Polizei versiegelte die Wohnung. Dignitas wich ins Haus Minellis in Maur aus, auch hier sprachen die Behörden umgehend ein Verbot aus, gegen das Dignitas Rekurs einlegte.


Minelli hat mittlerweile auch die Klage eines Hoteliers am Hals, weil Dignitas eine Sterbebegleitung in einem Hotel durchführte, ohne bei der Miete den Zweck des Zimmerbezugs anzugeben. “20 Minuten” meldete nun, es werde das Projekt geprüft, Freitodbegleitungen in einem Wohnmobil durchzuführen. “Radio 24” weiss von einer Sterbebegleitung im Schwerzenbacher Industriegebiet…


Wie weiter?


Rufe nach einer eingehenderen und damit wahrscheinlich restriktiveren gesetzlichen Regelung werden lauter. Die Politik hat dafür bis jetzt kein Gehör. Dennoch scheint Dignitas zum Opfer des eigenen Erfolgs zu werden. Davon ist auch Exit betroffen. Die zweite Sterbehilf-Organisation geht augenscheinlich nach innen und aussen sehr viel behutsamer mit dem Thema um und ist denn auch alles andere als erbaut vom offensiv gelebten Vereinszweck bei der Konkurrenz.


Es bleibt in jedem Fall der Gedanke an jene, deren Verzweiflung so gross ist, dass jeder Weg in den Tod mehr Erhaltung an eigener und innerer Würde verspricht, als das Verharren in einem Zustand, den man selbst nicht mehr als lebenswert empfindet.


Interview der Schweizer Rundschau mit Ludwig A. Minelli: Video (Feb 2007)


Schweizer Tagesschau vom 26.9.07: Blocher kritisiert Sterbewohnung (Website)


Die Fakten des Beitrags sind zu einem Grossteil aus einem Print-Artikel der “Mittellandzeitung” vom 2. Oktober 2007 entnommen.


Wann darf man sterben?: “stern.de”


NZZ online vom 7.10.07: Der Mann, der bei Freitod hilft


Bild: Paul Grover im telegraph.co.uk