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Europa - mehr als ein kriselnder Wirtschaftsverbund?

∞  16 Dezember 2010, 22:05

Europa geht an Krücken. Andere wie Günter Verheugen, ehemaliger EU-Kommissar, meinen, das wäre dummes Geschwätz. Europa würde immer in die Krise geredet. Wir hätten keine Eurokrise, wir hätten eine Finanzkrise.

Nur sehe ich da den Unterschied nicht. Zumindest noch nicht. Denn das so schnell gewachsene Gebilde Europa – Verheugen war in der EU-Kommission für die Osterweiterung zuständig – wird auf diese Finanzkrise reagieren müssen. Und da es nach wie vor keinen Kopf gibt, den man mit “Europa” assoziiert, sondern nur einen grossen Verwatlungsapparat, wird die Bewältigung dieser Finanzkrise eine Zerreissprobe für Europa werden.

Mag sein, dass der Euro sich nur im Vergleich zum Schweizer Franken auf Talfahrt befindet, aber die meisten Bürger dieses Europas dürften schon lange das Gefühl haben, dass die Osterweiterung Europas – in weniger als zwanzig Jahren sind 15 Staaten dazu gekommen – zu schnell vollzogen wurde. Es geschah mit dem Projekt Europa das gleiche wie es Deutschland im Innern erlebte: Dem Frieden wurden scheinbar beschleunigte Integrationsbemühungen geschuldet. Das galt sowohl für den Zusammenbruch der DDR wie später für manchen Staat der europäischen Union, der notdürftig fit gemacht wurde für einen Spielplatz, der gar nicht für die neuen Kinder geschaffen war.

Marktphantasien wurden durchaus befriedigt. Aber allzu oft sehr einseitig. Schwache Volkswirtschaften in der EU hat das oft nicht genügend stärker gemacht. Nun lesen wir also von Rettungsschirmen. Und obwohl ich ein wenig was von Volkswirtschaft, Mechanismen von Finanzmärkten etc. verstehe, verstehe ich rein gar nicht genug, um auch nur ahnen zu können, wie es rauskommen wird. Und ich glaube, es weiss es niemand.

Das führt mich dazu, mir zu überlegen, was denn eigentlich Europa für mich ist? Und ich fühle mich auch als Schweizer berechtigt, darüber nachzudenken…

Europa ist eine lebendige Idee. Sie wird immer dann gegenwärtig, wenn ich mit den mir bekannten Holländern, Franzosen, Deutschen oder Italienern zusammen komme. Hier in der Schweiz, erst recht aber, wenn ich die Länder besuche, bin ich immer wieder fasziniert von den grundlegend unterschiedlichen Mentalitäten – trotz kleiner Distanzen. Ich geniesse diese Kontakte, sie machen mich reich, lassen mich immer neue Entdeckungen machen, neugierig sein auf die jeweilige Geschichte. Es ist eine enorme Vielfalt in Europa vorhanden – und ein Segen, ein neues Glück nach zwei Albträumen, dass wir diese Vielfalt in Frieden erkunden und entdecken dürfen.

Das politische Europa aber bleibt ein Phantom. Lebendig wird es nur dann, wenn wirtschaftliche Fragen brennen. Dann wird über Europa diskutiert. Die Formel lautet: Europa schafft, beschleunigt durch die Einheitswährung des Euro, einen einheitlichen Wirtschaftsraum, und wirtschaftliche Entwicklung garantiert Frieden.

Je grösser aber dieser Wirtschafts-Raum wird, um so kleiner wird der grösstmögliche gemeinsame Nenner. Beklagen wir in der Globalisierung das Fehlen von Regeln, die für alle gelten, erleben wir im europäischen Wirtschaftsraum die schleichende Vereinheitlichung von Standards durch Verwaltungsnormen, welche plötzlich dazu führen, dass lokal kulturell gewachsene Standards und Qualitätsmerkmale aufgeweicht werden.

Manchmal mag es nur um Deklarationen auf Verpackungen gehen, manchmal betrifft es aber auch Grundsätzliches. Wenn ein grosser Markt für Käse unter Käse sich viel mehr vorstellen kann als der Spezialist, so wird es ganz bestimmt nicht lange dauern, bis jeder Käse Käse genannt werden darf. Und so weiter.

Wächst Europa wirklich zusammen? Dafür würde es Köpfe brauchen. Politiker, die nach Brüssel delegiert werden, obwohl man sie kennt… Kaum ein Bürger eines EU-Mitgliedlandes aber dürfte wissen, wer ihn im Europaparlament in Brüssel vertritt, und was die dort so genau eigentlich tun.

Wenn wir eine Krise haben, oder sie bekommen, wird es aber sehr grundsätzlich wichtig werden, ob sich die Hauptpersonen in diesem Spiel wirklich verantwortlich fühlen. Im Grunde aber spüre ich nur Solidarität, wo Angst die Triebfeder ist: Das Gebäude stützen, in das man sich selbst gesetzt hat…

Europa wird getestet. Betroffen sind wir alle, ganz egal, ob wir Teil davon sind oder nur Partner. Wir bekommen die Resultate unserer Geschäftsgebaren präsentiert. Das lässt sich nicht wegverwalten, nicht unterdrücken. Aber vielleicht hat die europäische Union in den nächsten Jahren einen grossen Segen: Der Zwang, miteinander zu reden und dabei zu wissen, dass man wirklich selbst mit im Boot sitzt, macht Annäherungen vielleicht leichter.

Wir werden sehen.