Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Es wird sich nichts ändern

∞  19 Januar 2009, 17:23

Ich gehe durch den Mittelgang im Wagon, auf der Suche nach einem freien Platz im Zug, nein, ich suche ein ganzes freies Abteil. Wie es alle machen. Abgrenzung suchen, Distanz wahren.
Warum eigentlich?
Die Blicke aber, die lassen wir gerne wandern – und auch ruhen auf fremden Gesichtern, um uns verschämt abzuwenden, wenn ein Mensch seinen Kopf hebt.

Ich setze mich hin, mein Lieblingsbuch* schon in der Hand, und schon blad löst sich das Weiss der Seiten auf. Ich gehe mit Gregorius durch Bern, seine Heimatstadt, die ihm längst fremd geworden ist, weil sich auch sein Blick verändert hat, weil alles ist wie immer, nur ohne den Mantel der Vertrautheit, der nicht länger warm geben mag, da er sich verschlissen hat im Fluss der Jahre.

Auch das Paar im Abteil neben mir, obwohl es noch so jung ist, muss sich schon Ewigkeiten kennen. Sie sitzen sich versetzt gegenüber. Er hat die Beine übereinander geschlagen, was sie noch länger und dürrer erscheinen lässt. Sein trüber Blick verliert sich in den schmutzig grauen Fensterscheiben des alten Wagons, in die sich der aufgewirbelte Bremsstaub der Räder im Laufe vieler Jahre eingefressen hat.
Er hält einen Bund der Sonntagszeitung aufgeschlagen auf dem Oberschenkel; die anderen Teile liegen auseinander gefächert neben ihm. Er wird zwanzig Minuten lang keine einzige Seite umblättern.

Er sieht, wie seine Freundin sich schräg gegenüber mit ihrem Pullover abmüht, in dessen Ärmel sich eine blasse feingliedrige Hand verheddert hat. Es dauert nur wenige Sekunden, und doch ist es eine quälende Ewigkeit, bis er begreift und ihrer Hand hindurch hilft.
Beide senken den Kopf und lesen weiter, als sähe auch er tatsächlich Buchstaben vor sich und nicht diese düstere Leere, die einfach noch keine Worte findet und schon gar nicht den Mut, allein zu sein. Vor allem nicht, wenn er sich seinen Abend vorstellt, mit einer kalten, leeren Küche, die ihn an die Notwendigkeit erinnerte, etwas zu essen, während der Versuch, sich etwas herzurichten, ja gar zu kochen, einfach nur absurd anmuten würde. Also wird er wieder mit zu ihr gehen, und zu teilen werden sie nichts haben als diese Angst.

Während er weiter die Zeitung hält und sich das schmutzige Grau der Scheibe in ihm ausbreitet, senkt sich ihr Kopf wie in einem erstarrten Nicken über das Buch, über den gläsern blass schimmernden Knochen ihres Schlüsselbeins im schiefen Ausschnitt ihres Pullovers, in dem sie sich noch nie wohl gefühlt hat.
Dann hebt sie den Kopf und hält den hellgrünen Einband des Buches anklagend dem grauen Fensterglas des Abteils entgegen.
“Was für ein Typ, dieser Schreiber, jetzt ist er völlig durchgeknallt. Jetzt lässt er es Blutegel regnen, vom Himmel, voll, echt, der Kerl ist komplett abgefahren.”
Sie erwartet keine Antwort und er lächelt nicht.
“Warum nur liest sie diesen Schrott?” mag er denken. Doch wenn ihn etwas beschäftigt, dann höchstens die Frage, warum ihn das früher nicht gestört hat? Warum ihn überhaupt so viel nun stört und alles anders ist, obwohl sich nichts verändert hat.

Während sie weiter liest und ich auch, und ich mit Gregorius und seinem griechischen Arzt vor der Klinik ankomme, fühle ich neben mir und doch weit entfernt die stille Verzweiflung des Pendlers ohne Ziel, der doch endlich eine Reise machen müsste.
Gregorius wiederum, lese ich, verabschiedet sich von seinem Freund. Die Tür der Klinik schliesst sich hinter ihm und es beginnt zu regnen. Ich bleibe draussen und fühle die Tropfen im Gesicht, die mir den Blick auf Gregorius nehmen, dessen Gestalt sich im Dunkel des Eingangsbereichs der Klinik verlieren mag.

Der Zug hat angehalten. Es ist Zeit auszusteigen. Ich spanne den Schirm auf und schreite befreit aus, atme die frische, feuchte Luft tief ein. Es ist wärmer geworden. Ich freue mich auf meinen langen Heimweg und weiche einer kleinen Pfütze aus.


°

*) Nachtzug nach Lissabon (Pascal Mercier)





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Prosa[isch]
und
Zeit und Leere



die stumme Leere, die voller Worte ist, die verloren sind...