Mein Schreiben. Täglich.

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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Es naht Post

∞  29 Juli 2010, 20:43

Noch ist Ruhe. Doch der Coup ist schon angekündigt. SVP-Präsident Brunner hat den mehr als zwanzigseitigen (!) “Fragebogen” bereits vorgestellt, den die SVP in Kürze in allen Haushaltungen der Schweiz verteilen will. Im Vorfeld der Abstimmung über die Ausschaffungsinitiative von straffälligen Ausländern gibt sich die SVP volksinteressiert: Sie will wissen, welche Ausländerpolitik wir, die Bürger, wollen.

Schon bevor die Sache anläuft, lässt sich eines sagen: Das wird ein neuer grandioser Schachzug werden, für den allerdings viel Geld in die Hand genommen werden musste. Annähernd 3.5 Mio Haushalte mit einer dicken Broschüre zu beglücken und dazu noch die Infrastruktur und Auswertung der Rücksendungen zu gewährleisten – das kostet eine happige Stange Geld, von der natürlich alle zu wissen glauben, wo sie herkommt. Und so falsch dürfte das nicht sein.

Eine Schweizerische Volkspartei verkauft sich praktisch als nationale Volksbefragungsinstitution – und wird damit während Wochen in den Schlagzeilen sein und unschätzbar wertvolles Auswertungsmaterial bekommen. Dabei ist es ja nicht so, dass die SVP nicht wüsste, welche Ausländerpolitik sie machen will, und ganz sicher auch nicht so, dass sie nicht gern versuchen wird, mit der Tendenz und dem Ton der Fragen die Menschen erst einmal darauf zu bringen, dass das eine schlimme Sache ist mit diesen Ausländern. Oder auf jeden Fall mit vielen von ihnen. Wieviel da mobilisiert werden kann, lässst sich nur erahnen. Die SVP wird ein Prüfstein für die direkte Demokratie bleiben und für die Frage, wieviel Ungleichgewicht der Mittel es verträgt, ohne dass das System wirklich Schaden leidet.

Ich traue nach wie vor der Mehrheit der Schweizer, ja der überwiegenden Mehrheit unter uns zu, dass sie zwischen berechtigten Vorhaltungen und Angst schürendem Populismus gegenüber allem Fremden unterscheiden kann – und darauf und auf dezidierte Antworten wird es ankommen. Gespannt bin ich dabei auf die Medien, die sich in der Regel auf alles rund um Blocher und SVP nur so stürzen, die Entrüstung suchend, die Mobilisierung, aber nie nur jene des Bürgers, sondern auch und vor allem die des Zeitungskäufers und Medienkonsumenten. Mit intellektueller Schöngeistigkeit wird es nicht getan sein. Es wird weltoffene Positionen brauchen, welche die Grundängste der Basis im Volk ernst nimmt – ohne jede Schulmeisterei. Man muss kurzärmeligen Protestnoten weder mit Verachtung noch mit Aufregung begegnen, sondern Gegenargumente damit einleiten, dass man den Kern der anstehenden Fragen aufnimmt und Verdrehungen, die daraus konstruiert werden, richtig stellt.

Interessant finde ich in diesem Zusammenhang, dass genau jetzt die Debatte über einen allfälligen Beitritt der Schweiz zum EWR, als Alternative zum bilateralen Weg, der je länger je mehr unmöglich werden könnte, Fahrt aufnimmt. Vielleicht wäre genau diese Debatte ein Gegengewicht und ein für einmal mutiger Schritt der wirklichen politischen Mitte, dass sie es sich zutrauen würde, einem Volk, das nach wie vor zu zwei Dritteln gegen einen EU-Beitritt ist, den Sinn und den Sinn für Realitäten in einer EWR-Mitgliedschaft zu erklären. Es müssten dann auch keine Wortschöpfungen mehr kreiert werden wie “der autonome Nachvollzug von EU-Richtlinien” und anderen Absonderlichkeiten, die herrlich peinlich offensichtlich zeigen, wo wir längst Erfüllungsnachfolger von Normen geworden sind, die anderswo beschlossen wurden.

Es dürten wieder spannende Zeiten werden, und so mancher wird erneut die direkte Demokratie beklagen. Aber es gibt keinen anderen Weg: Was 1992 mit 50.3% der Stimmen beschlossen wurde, kann korrigiert werden – wenn die Mehrheit es will. DAS ist Demokratie, auch bei schlechten Resultaten. Und es ist die einzige Regierungsform, die irgendwie in sich selbst das Wissen trägt, dass jeder Entscheid beklagt werden kann, dass die Frage, ob dies zu Recht geschieht, aber nur die Zeit zeigen wird. In der Zwischenzeit wird darüber diskutiert und gestritten – und damit gelebt.