Mein Schreiben. Täglich.

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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Erfolg ist alles?

∞  20 September 2014, 22:05

Akzeptieren wir überhaupt noch Autoritäten? Welche Grenzen hat unser Streben nach Erfolg? Wofür akzeptieren wir Sanktionen? Wie unterscheiden wir zwischen Recht und Unrecht? Was bedeutet es für uns, vom Schicksal ungerecht behandelt zu werden?

Spitzenfussball ist zur Konsumdroge geworden. Wochenende für Wochenende, bald Abend für Abend sitzen wir vor der Glotze und ziehen uns irgend ein ultimatives Spiel “rein”. Schon meine eigene Formulierung sagt eigentlich alles aus. Aber ich schaue weiter. Wenn auch – gemessen am Angebot, das ständig zunimmt – nicht mehr ganz so häufig. Die Gedanken, die mir dabei mache, zeigen mir auf, wie verstört ich zunehmend auf das reagiere, was mir da vorgesetzt wird…

Sie können sich an dieser Stelle schon ausklinken und feststellen: Fussball ist so wichtig wie ein Sack Reis, der in China umfällt oder auch nicht. Richtig. Aber der Fussball liefert mittlerweile ein Gesellschaftsbild, und die Menschen in diesem Sport funktionieren nach den Regeln, die für die Gesellschaft gelten. Wenn Sport gesellschaftlich so akzeptiert wird, wie es der Spitzenfussball heute ist, dann bilden sich in ihm und in den Wertungen, die wir dabei vornehmen, tatsächliche Werte und Grundlagen unseres Verhaltens ab. Ich bin überzeugt, dass die Art, wie Fussball heute gespielt, erlebt und verarbeitet wird, von allen Protagonisten, das Abbild hergibt, das auch für jeden Wettbewerb gilt, dem wir uns beruflich stellen müssen, ja, womöglich auch privat, wenn wir uns fragen, wo wir wie dazu gehören wollen oder was wir aus welchen Gründen wie für uns und unsere Familie beanspruchen wollen.

Der Fussball verändert sich genau so, wie es die Gesellschaft auch tut. Die Leistungsgesellschaft bildet sich nirgends so krass ab, wie im bezahlten Fussball. Die Parameter, die festlegen, welche Mittel zulässig sind, um Erfolg zu haben, verschieben sich laufend. Und Fussball ist deswegen so ein wunderbares Spiegelbild dafür, weil er einerseits meist gar klarere Regeln kennt, als sie uns gesellschaftlich, politisch und rechtlich vorgegeben sind – und anderseits offen zutage tritt, wie wir mit der Anwendung dieser Regeln umgehen: Fussball ist ein scheinbar einfaches Spiel. Doch es kreiert durch seine Dynamik und Schnelligkeit laufend Situationen, die kontrovers diskutiert werden. Die Abseitsregel ist ein klassiker für ein Reglement, das nie so klar formuliert ist, dass wir es wirklcih verstehen könnten – aber auch ein Hand-Vergehen ist längst nicht immer eindeutig. Entsprechend wird über Auslegungen gestritten, und die Autorität, die das entscheidet, laufend auf dem Platz angegangen. Und hier trifft die immer grössere gesellschaftliche Akzeptanz für jene, die dem Erfolg alles unterordnen, auf das Ideal, dass der Schiedsrichter immer recht hat. Die an sich fatale, für die Gesellschaftsbetrachtung aber geniale Prämisse, dass der Entscheid des Schiedsrichters immer gültig bleibt, fordert die Leistungsgesellschafter heraus, den eigenen Misserfolg zu aktzeptieren, auch wenn er ungerechtfertigt erscheint: Du tust alles für den Erfolg, machst alles richtig, bist besser, und am Schluss geht der Ball nur an den Pfosten, oder, noch schlimmer, ins Tor, ohne dass das anerkannt wird. Ein Fehlentscheid kann den Erfolg verunmöglichen. In der letzten Konsequenz ist nie ausgeschlossen, dass mich das Schicksal um den Lohn meiner Anstrengung “betrügt”.

Wer immer sich mit Fussball beschäftigt, muss das akzeptieren, und damit auch die Rolle des Schiedsichters annehmen. Doch wir haben es nicht so mit Autoritäten…. Wenn wir ihnen überhaupt noch einen Bonus zubilligen, wenn unser Kind am ersten Tag zum Lehrer in die Schule geht, die Behandlung durch den Arzt beginnt, dann ist dieser Bonus schnell hinfällig, wenn die ersten Entscheidungen anfallen oder mir eine Verhaltensänderung nahe gelegt wird… Wir akzeptieren Sanktionen immer widerwilliger, wir bedenken Kritik erst dann, wenn wir die blutige Nase schon haben. Davor sind wir “geradlinig”, “ordnen wir dem Erfolg alles unter” und wollen genau so zu den Siegertypen gehören. Wir fragen kaum nach der Grundidee des Spiels und den philosophischen Aspekten seiner Anlage, als danach, wie wir in diesem Spiel gewinnen können. Der Erfolg ist auch wirtschaftlich notwendig, und da ich ein Gehalt bekomme, bin ich niemandem so sehr verpflichtet wie meinem Arbeitgeber, der will, dass ich mit meiner Mannschaft das Spiel gewinne. Das führt bei den Trainern zur Offenlegung von Charaktereigenschaften, dass einem angst und bange werden kann. Wie sehr die Protagonisten dabei ihr Gesicht verlieren, betrachtet man deren Verhalten mit nur ein wenig Distanz, ist für mich immer wieder erschreckend.

Doch diese Distanz zu wahren, ist angesichts der Tatsache, wie gross die Gesellschaft das Spiel macht – natürlich – eine Herausforderung:

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Jürgen Klopp in einer Talkshow erleben, seine Reflexionen über Lebenswerte zu hören, ist sehr spannend. Da hat ein Mensch eine tolle Ausstrahlung und scheinbar eine Gelassenheit in sich, die es sehr angenehm machen, ihm zuzuhören. Da ist Raum für Zwischentöne und man kann sich sehr gut vorstellen, wie dieser Mensch andere, jüngere Menschen führen kann.
Dann ist Spieltag, Bundesliga, und Jürgen Klopp wird als Trainer von Borussia Dortmund zur Furie. Er tigert der Seitenlinie entlang, steht ständig unter Strom und blafft, wenn es gegen seine Mannschaft läuft, bei jedem Schiedsrichterpfiff den vierten Offiziellen, den Ersatzschiedsrichter an – und zwar mit einer Verve und Körpersprache und in einer Lautstärke, die vermuten lassen, dass da einer von Sinnen ist. Peinlich daran, ja körperlich schmerzhaft ist für mich die Beobachtung, weil Klopp dabei nichts anderes mehr ist als ein Fan – er sieht keine Entscheidung auch nur mehr bedingt objektiv und zweifelt alles an. Die Bilder vom Spielfeld belegen dann auch, dass er regelmässig falsch liegt – was es sehr schwer macht, den Mann dann noch ernst zu nehmen. Die Männer, die das trotzdem versuchen müssen, sind ausgerechnet die Schiedsrichter, die sich in der nächsten Situation weiter darum bemühen müssen, objektiv zu urteilen. Sie blenden notgedrungen ein gutes Stück weit aus, was sie da an Druck bekommen – hoffentlich. Denn neben der Emotion gibt es natürlich den gesellschaftlich in diesem Spiel tolerierten Reflex, mit der Reklamation zu erreichen, dass das “das nächste Mal nicht mehr passiert”. Bzw. in die andere Richtung, wenn schon falsch entschieden…

Wenn ich dieses Phänomen nun mit Fussballkollegen bespreche, dann werde ich zum Teil verständnislos angesehen. Emotion würde doch zum Fussball gehören, heisst es dann. Wirklich? Toben wir so durch unseren Alltag? Natürlich nicht. Aber genau so, wie sich Klopp an der Linie enerviert, schreien heute Eltern den Schiedsrichter an, wenn ihre Zöglinge auf dem Platz stehen. Es ist verheerend.

Übrigens gibt es eine Sportart, die, weil sie mehr Aufwand erfordert, um überhaupt gespielt werden zu können, nicht so weit verbreitet ist, die aber ähnlich viel Popularitätspotential hat und in der auch viel Geld verdient wird: Eishockey. Ein Sport mit Schiedsrichtern. Die sprechen Zeitstrafen aus, die für den Spielausgang laufend sehr bedeutsam sind und die auch nicht immer nachvollziehbar sein müssen. Doch diskutiert wird kaum. Es gibt einen Kodex, und der Fernsehzuschauer erlebt in erster Linie mit, wie Spieler sich fügen – müssen. Es gibt pro Mannschaft einen Captain und zwei Assistenzcaptains. Wenn es Diskussionsbedarf gibt, dann geht das über den Coach oder über diese Spieler, und wenn die Schiedsrichter ihre Sicht erklärt haben, wird nicht weiter diskutiert. Punkt. Ein harter Sport mit klarem Kodex. Wie wohltuend. Das Rad im Fussball wird wohl niemand zurück drehen. Aber man stelle sich mal vor, es gelänge. Wie toll wäre denn das! Mit Emotionen, die aufs Spiel fokussiert bleiben würden – und mit Kids auf dem Feld, die sich in erster Linie mit dem Spiel beschäftigen könnten und mit dem Lernprozess, wie man Entscheidungen gegen sich akzeptieren lernt – unbehindert von Eltern, die das zumindest für die Dauer des Spiels selbst vergessen zu haben scheinen – oder haben sie es gar nie gelernt? Muss es ihnen schlicht vom Leben beigebracht werden? Mit hohem Einsatz an Lehrgeld?