Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Eine Lesereise in der S-Bahn

∞  20 September 2011, 06:50

Wenn man heute S-Bahn fährt, scheint das in eine höchst bedrohliche Situation zu führen: Man befindet sich auf dem Weg von A nach B, also zwischen zwei Punkten, und teilt diesen Zustand in einer unter Umständen beklemmenden Enge mit Menschen, die alle rein gar nichts miteinander zu tun haben wollen. Früher haben wir uns hinter der Tageszeitung vergraben. Mit dem knapperen Platzangebot und den engeren Sitzen sind praktischerweise die Tageszeitungen zu Tabloidformaten geschrumpft. Aber auch das ist ja so was von gestern. Geschätzte neun von zehn vor allem der jüngeren Primaten können dabei beobachtet werden, wie sie Platz nehmen, worauf sie sogleich von einer inneren Unruhe erfasst werden, bis sich das Auge wieder an einem Bildschirm festhakeln kann: Gefühlte 10,9 Sekunden dauert es durchschnittlich, bis Handys und Smartphones gezückt sind und der ganze Wagon mit “checken” beschäftigt ist. Die Ellbogenfreiheit belastet das deutlich weniger, und ändern kann ich’s ja eh nicht. Will ich auch nicht. Aber ich lasse mich entsprechend gern von plötzlich ganz anderen Beobachtungen einnehmen:

Wir sind schon ein bisschen aus dem Stadtzentrum raus gezuckelt, als eine distinguiert wirkende ältere Dame einsteigt und sich setzt, nachdem sie ihr Fahrrad vor der Sitzreihe geparkt hat. Sie zieht aus der Tasche am Lenker, an den in dieser Szene ein Picknick-Korb noch besser gepasst hätte, ein Buch. So ein richtiges Hardcover-Ding mit festem Deckel und Rücken, und sie legt es sich auf den Schoss. Alles an ihr wirkt adrett, aber ein bisschen zu jugendlich. Die gebügelten schwarzen Hosen sind aus Jeansstoff, die Ballerinas so strahlend weiss wie die Lederjacke mit den fein genetzten Web-Applikationen. Ihr Lippenstift ist nicht zu grell, aber etwas zu dick aufgetragen, das Haar wölbt sich zu einer mindestens in dieser Umgebung sehr perfekten Frisur. Ich habe alle Zeit und jede Freiheit, die neue Mitfahrerin zu betrachten, denn sie hat ihren Blick längst auf das geöffnete Buch gerichtet, so dass ich lesen kann, wie sie liest:

Auf ihrem Gesicht breitet sich eine kindliche Freude aus, als würde sie aus dem Buch angeleuchtet werden. Sie blättert die ganze Fahrt über nur eine Seite vorwärts. Es scheint so, dass sie jeden Abschnitt mehrmals liest und bei einem bestimmten Satz immer wieder innehält, wie ein Mensch, der nicht oft genug lesen kann, dass ein vertraut werdender Fremder es schafft, ein der Leserin bekanntes Gefühl so zu beschreiben, dass sie es in sich selbst erinnern und beleben kann. Manchmal scheint es fast, dass sie das, was sie liest, am liebsten mit uns teilen möchte, um dann weiterhin nicht den Kopf zu heben, weil sie genau weiss, dass dieser Zauber nicht geteilt werden kann, dass er so wie hier und jetzt nur für sie zwischen diesen Buchdeckeln zu entdecken ist. So liest sie also ihr Buch, und ich muss gleich aussteigen…

Ihr Nachbar links versucht krampfhaft, seine Beine vom Vorderradreifen weg zu strecken. Seinem runden fleischigen Gesicht unter der Schirmmütze steht der Ärger ins Gesicht geschrieben – aber ich lese darin auch die Hilflosigkeit, keinem Pöbel jugendliche Rücksichtslosigkeit vorhalten zu können. Die Lady kann einfach nicht gestört werden. Und weil ich den Moment nicht erleben werde, in dem sie einen Blick für mich übrig haben könnte, lächle ich stattdessen den Schirmmützen an, bevor ich tatsächlich aussteigen muss.