Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Ein Tag fürs Leben

∞  21 August 2010, 22:12

Die Schweiz ist wunderschön. Wir stehen uns zwar ziemlich auf den Füssen rum, weil der Platz, den wir haben, so beschränkt ist – und weil wir noch immer in atemberaubend schneller Zeit weiteres Wohnland verbauen. Die wirtschaftliche Prosperität, Sie wissen schon… Aber eines bleibt sich gleich: Die Schweiz ist nicht nur klein, sie ist auch in allem nah. Auch mit ihren Schönheiten. Es ist einmalig, innert dreihundert Kilometern eine Flusslandschaft im Mittelland, Passfahren in den Alpen und das Palmenflair im Tessin erleben zu können.

Und für einen Tagesausflug liegen die Schönheiten der (Vor-)Alpen auch für einen Zürcher unglaublich nah. Das Glarnerland zum Beispiel. So sind wir heute auf einen “Gupf” gestiegen, der scheinbar völlig unspektakulär ist: Wenn man den Schilt von weitem sieht, fällt einem wohl daran so praktisch gar nichts auf. Dabei ist es nur schon ein Erlebnis, von Ennenda hoch bis zur letzen Parkplatzmöglichkeit mit dem Auto zu fahren: Die Strasse führt teilweise durch lichten Wald, dann wieder entlang von steilen Alpwiesen, die vielleicht gerade von einem Bauern mit Handmähern gemäht werden. Auf der ganzen Strecke ist kaum je Platz für ein Kreuzen. Bei Gegenverkehr muss zurück gefahren werden bis zur nächsten Ausweichstelle. Leitplanken werden zum Teil durch Schiefer- oder Kalkblöcke gebildet, die am steilen Abhang in den Boden gerammt wurden. Wieviel Schweiss und Mühe mag es kosten, solche Strassen immer wieder in Stand zu stellen?

Und dann? Wir steigen drei Stunden hoch, durch ein letztes Waldstück an der Baumgrenze, wir wandern über Alpmatten im satten Grün des Spätsommers, Kuhglockengebimmel hängt an den Wänden über uns, die von von zum Teil absurd anmutenden einzelnen Bergquadern gebildet werden, die wie von Riesen hingeworfen und eingerammt in abfallenden Hängen stehen. Im letzten Stück traversieren wir ein schroffes Kalksteinfeld, das Spalten und Risse hat, als würde es sich dabei um einen versteinerten Gletscher handeln, und das Gestein leuchtet in der Sonne in den verschiedensten Farben und unzähligen Schattierungen von weiss bis gelb. Auf dem Schilt zeigt sich uns dann ein wunderschöner Rundumblick in die umliegenden Täler, wo die Menschen, zu deren Nachbarn wir ja auch gehören, unendlich weit entfernt scheinen, unsichtbar sind und doch nur eine Anstrengung entfernt. Hier oben ist Ruhe, ist Milde, die jederzeit grob und rauh werden kann, wenn der Wind auffrischt. Das klare Wetter ist ein Geschenk, das man erst recht ahnt, wenn eine Nebelschwade unter uns aufzieht und dann weiter gleitet, nachdem sie sich bedrohlich über den letzten Kamm unter uns hoch gestemmt hat.

Drei Stunden Aufstieg und eine Bergfahrt mit dem Auto – oder achtzehnhundert Höhenmeter unter uns liegt Glarus – oder eben der Alltag. Aber er ist kein kleines Bisschen realer als das hier oben. Was wir hier fühlen, sehen, erleben, ist genau so wahr und echt wie die Sorge unter uns. Vielleicht sogar viel mehr. Es liegt in diesem Augenblick die Kraft, allem leichter seinen Platz zuweisen zu können, und sei es mit einer einfachen humorvollen Bemerkung. Das Gymnasium, das am Montag beginnt? Gemach. Egal. Wird schon werden. Die anstehenden Pendenzen? Die ToDo-Liste? Es wird sie immer geben, was allein schon beweist, dass wir es nicht verdienen, dass wir zulassen, dass wir selbst sie überbewerten.
Wir werden die Arbeit schon leisten. Genau so, wie wir hier hoch gekommen sind. Unsere Gegenwart war gestern vielleicht ein Teil unserer Sorgen. Ein Tag wie dieser aber ist leicht und bei aller Anstrengung voller Geschenke. Genau dieser Tag kann eine Art Sinnbild fürs Leben sein. Für mein Leben. Und das Ihre.

Der Abstieg war mühsam. Zwei Stunden Plackerei für meinen Freund, mit schmerzenden Zehen im ständigen Abwärtsgang über Stock und Stein und einer Achillessehne, die ganz offensichtlich nicht unbedingt so gereizt sein sollte, nur weil man sie einmal ein bisschen beansprucht. Aber mein Freund beisst sich durch, und das Gefühl, auf dem warmen Stein des Parkplatzes zu hocken und die Knochen einzeln zu sortieren, ist herrlich.

An uns vorbei stapft ein Vater bergauf, eingespannt in ein Zugseil, zwei schwere Wassereimer links und rechts in den Händen. Sein Bub hockt stolz und lenkend auf einem Spiel-Trax am Ende des Seils und lenkt seinen Vater bergwärts. Vater grüsst uns herzlich. Die Esel hätten leider nicht rechtzeitig eingefangen und eingespannt werden können, meint er.

Es ist spät geworden. Der ersehnte Eisbecher muss gestrichen werden, die Cola schmeckt dafür um so besser, die wir im vorbeigehen mit dem letzten Schwupps vor Geschäftsschluss erhaschen – und heimwärts gehts. Nur eine Stunde später sind wir daheim. Es ist, als wären wir nie fort gewesen. Wir sind ja auch eher bei uns selbst eingekehrt.