Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Ein bisschen mehr Abschied

∞  19 September 2013, 10:30

Besuch beim Pflegepersonal, das meine Mutter im Sterben pflegte. Ein weiterer Schritt in der Trauerarbeit – und die Erneuerung des Dankes für den Trost der guten Pflege.

Ich weiss nicht, ob der Abschied von Angehörigen Etappen enthält auf einer Reise, die ein Ende findet – oder ob dieser Prozess niemals abgeschlossen ist – unabhängig davon, wie der Verlauf und das Erlebnis war. Eines aber ist ganz sicher: Wer Abschied nimmt, muss in letzter Konsequenz die Hinwendung und Konzentration auf sich selbst schaffen.

Wenn man als Sohn im Laufe der Zeit und in jedem Fall im Erwachsenenalter seine Eltern verliert, sie also überlebt, dann ist das der normale Lauf des Lebens. Die meisten machen das durch – und ist es umgekehrt, so ist das wohl eine ganz besondere Tragik. Es ging und geht also bei mir den geregelten Gang des Lebens und Sterbens, so, wie es “seine Ordnung” hat. Und doch macht mir der Abschied von meiner Mutter noch immer zu schaffen, und ich habe Phasen, da frage ich mich, ob das je aufhören wird?

Wahrscheinlich nicht. Es wird seltener werden, dass ich daran denke, dass mir Bilder hochkommen von der Pflege, von der Bewusstwerdung der Endgültigkeit, für die es verschiedene Bilder gibt, die wohl bleiben werden. Immer. Dabei scheint es gar nicht so sehr eine Rolle zu spielen, wie gut das Verhältnis zu den Eltern war – wahrscheinlich deswegen, weil diese ganze Frage im Grunde nur mit mir selbst zu tun hat.

Gestern ist Marcel Reich-Ranicki gestorben. Von ihm überliefert ist die Aussage des zutiefst ungläubigen Menschen, der Tod sei für ihn ein Skandal. Die Tatsache, dass er sterben würde, vergänglich wäre, schien ihm eine Ungeheuerlichkeit zu sein – eine Haltung, die ich immer häufiger zu hören bekomme. Sie ist konsequent in einer sinnentleerten Welt, die am Punkt der Ungewissheit lieber mutmasst als glaubt, gar nicht anders kann, weil heute spirituelle Erfahrungen mit eletkrischen Impulsen im Gehirn erklärt werden – und die Liebe als biochemischer Prozess. Wir sind bereit, jede Antwort nach dem Sinn des Lebens, die Spiritualität mit einschliesst, lächerlich zu machen, sehen aber niemals in der scheinbar wissenschaftlich erklärbaren individuellen Wahrnehmung des Einzelnen die Lächerlichkeit des momentanen Unwissens. Und vor allem fragen wir uns nicht:

Warum ist ein Sonnenaufgang nicht länger eine emotional berückende Erfahrung, nur weil ich die Entstehung und Wahrnehmung der Farben scheinbar befriedigend erklären kann?

Wenn aber alles Wissen, das wir generieren, schlussendlich auch nicht anders kann, als schon im Fundament der Erkenntnisse auf einer Annahme zu beruhen – wie kann denn unsere Aufgabe eine andere sein, als angesichts der Endlichkeit unseres Vorstellungsvermögens und dem Zerfall von Leben die Frage zu stellen, woher denn dieser Skandal kommen mag, der einfach den Verlust einer Existenz bedeutet. Und wenn wir eines schon sehr früh in unserem Leben wirklich “wissen” könnten, dann ist es, dass genau dieser Moment kommen wird.

Auch ich wusste, dass der Moment des Abschieds von meiner Mutter kommen würde. Ob mich das besser vorbereitet hat? Vielleicht nicht. Aber es mag die Auseinandersetzung in der Erinnerung beeinflussen – denn ich mag nicht verdrängen, was zu meinem endlichen Leben gehört.

Ich bin in diesem Jahr ganz bestimmt nicht sozial verträglicher, nicht umgänglicher geworden. Ich habe mit mir selbst zu tun. Und womöglich geschieht das mit uns allen stückweise, gerade mit solchen Erfahrungen. Und doch muss und soll das Leben keine Farbe verlieren, und ich kann mich und meinen Stand der Verarbeitung prüfen, indem ich beobachte, wie ich beobachte: Sehe ich eben diesen Sonnenauf- oder -untergang? Ist er mir mehr oder weniger Trost oder Wunder als vor dem Abschied?
Bin ich ihnen näher als zuvor, oder betrachte ich sie, als sässe ich im Kino?

Ich möchte leben. Mit Aufmerksamkeit und Achtsamkeit für meine Nächsten. Aber auch mit Zeit für mich selbst. Denn nur wenn der Kamin brennt, mag ich die Tür für Besuch öffnen.