Mein Schreiben. Täglich.

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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Die Schweizer und die Ausländer

∞  16 Februar 2014, 22:28

Das Schweizer Abstimmungswochenende ist bestimmt noch nicht verdaut, aber eine Woche Abstand gibt Gelegenheit, das zu versuchen, was zur Demokratie gehört:
Den Willen der Mehrheit zu respektieren und die Gründe zu verstehen, welche dazu führen, dass die Schweizer Stimmbürger per Initiative verfügt haben, dass die Zuwanderung in die Schweiz zu beschränken sei – mit Lenkungsmassnahmen, die es eigentlich nicht erlauben, das Abkommen mit der EU über die Personenfreizügigkeit weiter zu führen. Sind meine Mitbürger denn nun ganz von Sinnen und geben sie schlicht ihren Ressentiments einer versteckten Ausländerfeindlichkeit nach?

Ich glaube, diese Reaktion aus dem Ausland ist verständlich, aber sie greift viel zu kurz – und sie verkennt, dass hier Ängste zum Ausdruck kommen, die längst nicht nur in der Schweiz wachsen. Egal in welchem Land mit dieser Frage umgegangen wird – die Parole der Mitmenschlichkeit, der Brüderschaft aller Europäer wird nicht ausreichen. In der Schweiz haben sich gegen die SVP-Initiative sämtliche Parteien gewandt, alle Gewerkschaften und alle Wirtschaftsverbände. Die Niederlage dieser Bemühungen ist desaströs. Und sie zeigt, dass es der Politik eben nicht gelingt, die Befürchtungen der Bürger aufzunehmen und zu mildern:

Die Massnahmen gegen Lohndumping greifen nicht überall, die Zahl der Handwerkeraufträge, die von ostdeutschen Firmen wahr genommen werden, nimmt immer mehr zu. Die Programme für ein verdichtetes Bauen haben ihren Reiz für Architekturwettbewerbe, in der Wohn-Praxis steigt der Platzbedarf pro Person kontinuierlich an und die Zersiedelung der Landschaft schreitet ungebremst vorwärts.
In Zürich sind praktisch keine Wohnungen zu für den unteren Mittelstand zahlbaren Preisen mehr zu finden. Pro Sekunde wird ein Quadratmeter Land zubetoniert. Das sind vierzehn Fussballfelder pro Tag. Seit dem vollen Greifen der Personenfreizügigkeit für die Kernstaaten der EU in 2007 hat die Schweizer Bevölkerung pro Jahr um zugewanderte 80’000 Menschen zugenommen – das ist 1% Wachstum der Bevölkerung pro Jahr. In einem Land, das bereits davor einen dreimal höheren Ausländeranteil aufwies als Deutschland. Was wäre da wohl in Deutschland los, bei dieser Entwicklung?

Das sind Fakten, die zumindest eines ausdrücken: Es wird eng bei uns.

Wie es nun wohl weiter gehen wird? Werden wir als Rosinenpicker nun abgestraft und in den Senkel gestellt, wie das viele Politiker in Europa in ersten Statements von sich gaben? Mal abwarten. Es ist ja nicht so, dass die Interessen so einseitig verteilt wären, und die so genannte Guillotinen-Klausel, die beim Wegfall eines bilateralen Vertrages die Kündigung aller Teilverträge vorsieht, ist nicht nur ein Problem für die Schweiz, sondern wohl auch für die EU – oder einige Staaten der Gemeinschaft. Man mag mit Recht anfügen, dass die Schweiz das Problem hat, dass ein wesentlicher Teil ihrer Exporte in die EU gesendet wird, aber andersherum ist auch gestrickt: Die Schweiz ist nach den USA und China der drittwichtigste Handelspartner der EU, und es gibt Industriezweige, bei denen ist es noch augenscheinlicher, dass die Interessen an einem reibungslosen Warenaustausch gewahrt bleiben.

Wir haben nun alle ein Problem – aber vielleicht ist es auch höchste Zeit, dass wir dieses Problem auf dem Tisch haben und nicht länger so tun, als würde hier nicht sozialer Sprengstoff angesammelt, wenn man das Problem totschweigt. Es ist schwierig mit uns Schweizern, ich weiss. Aber es ist überheblich bis kurzsichtig, im Schweizer Volksentscheid nur Ausländerfeindlichkeit zu sehen. Und die Rosinenpickerei – ach bitte, vergisst doch bitte mal diese doofe Rechthaberei, die suggeriert, als würde der Schweiz in Verhandlungen irgendwas geschenkt. Glaubt denn im Ernst jemand, dass die Schweiz in einem der sieben bilateralen Verträge eine Art Artenschutz beanspruchen konnte, und die Resultate nicht viel mehr auch im Interesse der EU-Parteien lagen? Rosinenpicker – vielleicht, wenn schon, passt dies auf die Arbeitnehmer aus Europa, die gezielt einen Job in der Schweiz suchen, weil hier eben besser verdient werden kann. Eine Rosinenpickerei, die statthaft ist, keine Frage, so lange sich dadurch Gleichgewichte nicht so verschieben, dass das System kollabiert.