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Die Schweiz und ihre Arbeit

∞  15 Dezember 2012, 12:26


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Zitat:

Arbeitnehmervertretungen sind vergeblich zu suchen und das hat seine Folgen. Nur um mal wenige Beispiele zu nennen: Mutterschutz, Kündigungsschutz etc pp.
(Lady Crook)

Tatsächlich: Die Frage, wie lange ein Mutterschafts- oder Vaterschafts-Urlaub dauern und welche Art Kündigungsschutz Eltern bei ihrer Arbeitsstelle haben sollen, muss in unserer sich wandelnden Gesellschaft laufend diskutiert werden. Kinder zu haben, darf nicht noch unattraktiver werden. Arbeitsrechtliche Anpassungen sind aber allein für sich genommen keine Lösung – denn alle gesetzlichen Grundbedingungen führen dazu, dass sich alle einer Gesellschaft zugehörigen Parteien zwar nach diesen Bedingungen richten müssen, darauf aber unter Umständen ausweichend reagieren, womit die Probleme sich einfach verlagern.

Das Thema Arbeitsrecht und Elternschutz ist ein sehr gutes Beispiel dafür: Lösungen müssen von allen Teilen der Gesellschaft bereitwillig getragen werden.

Für die richtige Form des arbeitsrechtlichen Elternschutzes und die entsprechenden Freistellungsregelungen nach der Geburt habe ich die Antwort nach dem ausgewogenen Mass nicht zur Hand. Es stimmt, dass andernorts dieser Schutz sehr viel deutlicher ausgebaut ist. Dazu gehört aber auch, dass die Wirtschaft darauf reagiert: Der starke Kündigungsschutz für Mütter führt dazu, dass Firmen bei der Vergabe von Festanstellungen sehr viel zurückhaltender werden und andere Anstellungsformen angeboten werden: Daraus erklärt sich ein gutes Stück weit die Zunahme der Leiharbeitsverträge und leider auch das grosse Problem Arbeitsloser, eine neue wirklich feste Anstellung zu bekommen: Kündigungsschutz und Anstellungsmodelle stehen in einem laufenden Prozess, und der Wettbewerbsdruck wird gewiss häufig und gern auf den Kostenfaktor Mensch übertragen. Nach welchem Modell er am besten aufgefangen werden kann, wird ein Stück weit stets die Gesellschaft als Ganzes mitbestimmen und es aus ihrem geschichtlichen Kontext heraus versuchen wollen.

Es ist richtig, dass, zum Beispiel, in Deutschland die Gewerkschaften eine viel grössere öffentliche Rolle spielen und Betriebsräte eine Mitsprache in Unternehmen haben sollen. Diese Instrumente auf Arbeitnehmerseite dienen der Austarierung der Interessen und helfen mit, von beiden Seiten akzeptierte Tarifverträge abzuschliessen. Dass in der Schweiz Gewerkschaften scheinbar keine so wichtige Rolle spielen, weil Streiks sehr viel seltener sind und öffentliche Diskurse weniger scharf geführt werden, könnte aber ein Trugschluss sein, wobei ich das nicht wirklich werten will. Ich kann aber auf ein paar Besonderheiten des Schweizer Systems verweisen:

Es gibt in der Schweiz eine tief verwurzelte Praxis, Konflikte und Lohnverhandlungen nicht durch Kampfmassnahmen, sondern am Verhandlungstisch zu lösen. Arbeitgeber- wie Arbeitnehmerverbände sprechen von einer Sozialpartnerschaft, an der sie beteiligt sind. Daraus resultierte der arbeitsrechtliche Begriff des Arbeitsfriedens, dem in der Schweiz eine grosse Bedeutung zukommt: Arbeitnehmer wie Arbeitgeber sehen in der Stabilität und Sicherheit, in der entsprechenden Attraktivität des Werkplatzes Schweiz für Investoren einen schützenswerten Vorteil, was offensichtlich immer wieder zu einvernehmlichen Lösungen führt: Beide Seiten haben ein hohes Interesse an einem befriedigenden Kompromiss und das Wissen, dass es für diesen Arbeitsfrieden das Mitziehen der anderen Seite braucht.

Gesamtarbeitsverträge gibt es auch bei uns, und für deren Verbindlichkeit braucht es am Verhandlungstisch auf beiden Seiten anerkannte Interessenvertretungen. Und es müssen von beiden Seiten akzeptierte Schlichtungsinstanzen vorhanden sein, die notfalls mithelfen können, die Aufrechterhaltung des Arbeitsfriedens zu sichern. Tatsächlich: Die Bedingungen des Wettbewerbs werden härter, der Arbeitsfrieden wird immer wieder auf die Probe gestellt. Nach wie vor aber ist es so, dass dieser Aspekt unserer Gesellschaft eine massgebliche Stärke unserer Volkswirtschaft ist und von allen Parteien entsprechend getragen wird. Dazu gehört auch das Phänomen, dass die Schweizer vor kurzem eine zusätzliche Ferienwoche für alle Arbeitnehmer an der Stimmurne abgelehnt haben: Sie wollen kein Signal abnehmender Leistungsfähigkeit des Werkplatzes Schweiz in die Welt hinaus senden.

Unter dem Strich ist das Thema der Sozialpartnerschaft und des relativen Arbeitsfriedens in der Schweiz ein gutes Beispiel dafür, die soziale Sicherheit und die politische Stabilität der Schweiz als Grundlagen für den Wohlstand zu erkennen. Auch diese Werte sind gefährdeter denn je, und es braucht die beständige Arbeit und Rückbesinnung auf die Vorteile für alle Seiten, damit wir uns ganz bewusst die Verständnisbereitschaft für die Anliegen der Gegenseite als Wettbewerbsvorteil erhalten. Auf dem Weg dahin streiten wir genau so engagiert und möglichst breit um den richtigen Weg und das gerechte Mass – aber wir dürfen nie aufhören, diese Gerechtigkeit wirklich in einem Mass zu wollen, dass wir danach guten Gewissens von der Gegenseite auch die Einhaltung der Vereinbarungen fordern können, weil sie diese stemmen und leisten kann – und schlussendlich auch will. Wir brauchen also gerade für dieses Ziel weiterhin starke Unternehmer und nicht nur kühl kalkulierende Manager, welche die Wechselwirkungen einer unversöhnlichen Verhandlungsführung nicht erkennen können. Noch haben wir eine lange Tradition und eine Erfolgsgeschichte, die es erlaubt, aus der Erfahrung heraus fair zur Gegenseite zu sein.