Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Die Mär von den langsamen Schweizern

∞  5 Juli 2010, 20:53

Es ist immer wieder eine mögliche Reibungsfläche: Die Völker und ihre Clichés. Man kann sich über sie ärgern, und als Deutscher extra unordentlich sein. Aber warum denn sich selbst bestrafen, wenn man sich eben doch in geordneten Verhältnissen am besten fühlt?
Da haben wir Schweizer es schon schwieriger. Denn, wenn Sie eine schwere Zunge haben, wenn sie schlicht langsam sind – was wollen Sie denn da tun? Den Dialekt ändern? Die konsonantenlastige kehlige Sprache umerfinden? So langsam kann ich gar nicht sein, um das noch zu erleben – und so lächerlich wollen wir uns denn auch gar nicht erst machen. Vor allem weil: Stimmt alles gar nicht!

Wir sind ganz anders. Einig sind wir uns wohl, dass unsere Welt immer schneller wird und wir immer mehr Dinge gleichzeitig immer schneller erledigt haben wollen und selbst erledigen wollen. Dass wir uns dabei tatsächlich selbst irgendwie erledigen, ist auch wohl wahr. Aber zuerst bleiben wir mal ein bisschen flapsig. Der Soziologe Robert Levine hat eine Methode entwickelt, herrlich willkürlich und doch interessant, um die Geschwindigkeit einer Gesellschaft zu bestimmen [Quelle: beobachter.ch, PDF ]
Er hat folgendes in den grössten Städten in 31 Ländern gemessen:

1. die Genauigkeit öffentlicher Uhren (weil dies die Bedeutung ausdrückt, welche eine Gesellschaft der Zeit beimisst)
2. das Tempo, mit dem ein Fussgänger 20 Meter zurücklegt.
3. die Zeit, die ein Postangestellter braucht, um eine Briefmarke zu verkaufen (soll eine Aussage über die Bräuche am Arbeitsplatz erlauben).

Levine fand heraus: Das Tempo steigt mit Wohlstand, Industriealisierung, Einwohnerzahl, Individualismus und kühlerem Klima.
Dass die Schweiz in dieser Rangliste Platz 1 belegt, können Sie sich schon denken. Sonst würde ich doch diese Spielerei nicht so breittreten. Aber interessant sind sie schon, die Platzierungen der Schweiz:
Uhrengenauigkeit: Platz 1 (Klischee völlig bestätigt! – es ist eben wahr, wir SIND die Uhrmacher schlechthin, und die Schweizer Forschung über die Zeitmessung ist, z.B., die Grundlage des weltweiten GPS-Systems).
Fussgängertempo: Platz 3 (Überraschung! Wir sind nämlich so was von schnell und agil!)
Postschalter: Platz 2 (Emil hat uns brandschwarz angelogen und ein völlig falsches Bild in die Welt hinaus getragen!).
Lauter Podestplätze also. Deutschland kommt übrigens bei den Fussgängern auf Platz fünf. Und beim Postschalter auf Platz 1. Dass die Uhren in neunzehn Ländern genauer gehen als in den USA ist auch eine Überraschung…

Und was fangen wir jetzt mit all den Erkenntnissen an? Nicht viel. Interessant wäre es, in Erfahrung zu bringen, was wir denn nun damit anfangen, dass wir mit am Schnellsten aufs Postamt laufen, dort sehr flott bedient werden und dann auch noch am genauesten ablesen können, wieviel Zeit wir jetzt gespart haben?
Ich hätte einen Vorschlag:
Hinsetzen und ein wenig nachdenken über die Zeit. Die, welche wir messen und die immer zuwenig ist. DIE Mangelware schlechthin. Und die Quengelware auch. Logisch. Denn alle Welt will etwas von uns. Wir ja eigentlich auch.
Ich erlaube mir, hier ein paar frühere Gedanken vom 29. Juli 2007 [scheint mir wirklich wieder lesenswert zu sein] aufzugreifen:

Indem wir dem Leben hinterher rennen, machen wir es noch schneller.

Vielleicht holen wir es nie ein.

Zumindest das flüchtige Leben wird sich immer entziehen.

***
Warum rennen wir eigentlich immer den Dingen besonders angestrengt hinterher, die in ihrem Wert in jedem Fall vergänglich sind?



Wie, wenn wir immer weniger Zeit verbrauchten, bevor wir sie geniessen können?
Und wie, wenn wir das, was wir mit der Zeit anstellen, an dem mesen würden, was bleibt, wenn die Zeit weiter läuft?