Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Die Macht unbedachter Worte

∞  22 Juni 2010, 11:42

Oft ist zu beobachten, wie leichtfertig wir unsere Worte wählen. Was wir damit im Einzelfall anrichten, ist oft nicht abzuschätzen. Was ausgesprochen ist, lässt sich niemals zurück nehmen. Die Macht der Worte bestimmt aber nicht nur Beziehungen, sie ist auch im öffentlichen Raum vorhanden, und gerade dann, wenn Menschen mehr aus der beobachtenden Warte reden, sollten sie sich um so mehr bewusst sein, wie sie etwas sagen:

Die Schweiz hat ihr zweites Spiel verloren. Die zwar kämpferische, aber spielerisch absolut ungenügende Leistung wurde zur Nebensache, weil der Schiedsrichter nach dreissig Minuten einen ungerechtfertigten Platzverweis verhängte – und die Schweiz damit in ein Spiel in Unterzahl zwang. Der Schiedsrichter hat einen Fehler gemacht. Ja. Er war vielleicht gar der schlechteste Mann auf dem Platz, oder zumindest einer der schlechteren. Das zeichnete sich schon ab, als er nach dreissig Sekunden für ein stehen gelassenes Bein einen Chilenen verwarnte: Wer so schnell bestraft, kommt ganz bestimmt nicht ohne rote Karte über die Runden.

Im Schweizer Fernsehen hat Christian Gross davon gesprochen, das Schweizer Team wäre um die möglichen Früchte seiner Arbeit betrogen worden. Er war mit dieser Aussage nicht allein, und sie blieb im Studio unwidersprochen. Wohl die meisten haben diesen Satz gestern irgendwo gehört oder gar selbst gesagt.
Mit Verlaub: Dieser Satz ist skandalös. Denn er unterstellt dem Schiedsrichter eine Absicht. Betrug heisst, dass ich Falsches Vorspiele, eine Partei willentlich benachteilige. Dies kann man dem Schiedsrichter aber nicht unterstellen. Es ist denn im weiteren Verlauf der Diskussionen auch die Rede davon, dass er schlicht überfordert war, und “nach allen Seiten” Fehlentscheide traf, selbst wenn auch dem Tor der Chilenen ein ganz knappes Abseits vorausgegangen sein sollte.
Es sollte einfach nicht sein. Der Schiedsrichter wurde diesem Spiel zugeteilt, er war zu dieser Stunde an diesem Ort und erlebte dabei ein Stück weit die eigene Katharsis. Vielleicht hätte er sich mehr als alle anderen gewünscht, Entscheide zurücknehmen zu können?

Betrogen aber ist niemand worden. Der Schweiz wurde eine Aufgabe gestellt, die sie nur schwer lösen konnte. Wer aber Fussball spielt, muss sich bewusst sein, dass sich in der Summe solche Situationen in einem Fussballerleben ausgleichen. Betrogen wird dabei niemand. Es stellen sich immer wieder neue Aufgaben, und die löst man so gut wie möglich. Wenn es dann nicht funktioniert, lernt man daraus, und macht weiter. Etwas anderes macht keinen Sinn und ist vor allem eine hilflose Verhaftung im Unvermeidlichen – und in der Vergangenheit.

Wir alle kommen auch in unserem Leben nicht weiter, wenn wir uns tatsächlich dazu versteigen sollten, dem eigenen Schicksal vorzuwerfen, es würde uns betrügen. Woher nehme ich denn umgekehrt den Anspruch, dass ich vom Schicksal verschont werde, dass meine Ängste sich in Luft auflösen? So lange es ein Morgen gibt, entstehen auch immer wieder neue Chancen. Und so gibt es ein nächstes Spiel. Und ein nächstes Turnier. Der Schiedsrichter muss weiter machen können, seinen Tag verarbeiten. Die Spieler müssen das auch. Jeder versucht sein Bestes. Und zu lernen. Noch kann niemand sagen, ob das dem Schiedsrichter am Ende nicht besser gelingt als den Spielern… Und das wäre doch dann wirklich peinlich für jeden Lautsprecher…

Nochmal: Es ist niemand betrogen worden. Das Leben hat einfach ein bisschen härter zugepackt. Auf fast allen Seiten. Die Chilenen jubeln und sehen sich schon qualifiziert. Nach dem letzten Gruppenspiel sind am Ende vielleicht sie ausgeschieden. Aber nur, wenn die Schweizer, mit welchem Schiedsrichter auch immer, den Schalter umlegen und ein Spiel gestalten können. Und wenn dann Fortuna will… Ansonsten sollte man wenigstens am Ende sagen können:
Wir haben unser Bestes gegeben und Haltung bewiesen.