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Die Macht des Verdachts eines sexuellen Übergriffs

∞  2 Juli 2011, 10:50

Anklagen wegen sexueller Übergriffe. Die Fälle Strauss-Kahn, Kachelmann u. a. zeigen ein Dilemma auf, das längst nicht nur Personen mit Macht und Einfluss viel verlieren lässt, wenn sie in ein solches Verfahren geraten. Es gibt für die mediale Handhabe solcher Verfahren dringenden Regelungsbedarf.


Jörg Kachelmann ist freigesprochen worden, Dominique Stauss-Kahn wird womöglich gar nicht angeklagt. Im Fall von Kachelmann spielen Justiz und Medien eine höchst zweifelhafte Rolle – bei Strauss-Kahn lässt sich feststellen: Ganz egal, ob die Staatsanwalt begründete Zweifel an der Schuld hat und das Verfahrens schlussendlich einstellt und trotz differenzierterer Medienberichterstattung: Der Schaden ist angerichtet.

Es gibt im Grunde nur Verlierer. Mag sein, dass, wenn die Komplott- und Verschwörungstheorien beim verhinderten französischen Präsidentschaftskandidaten zutreffen, wenigstens diese Rechnung aufgegangen ist: Ein politischer Gegner ist ausgebremst worden. Der Zynismus ist begründet:

Solche Geschichten, in dieser extremen Auswirkung der Öffentlichkeit vorgeführt, verschärfen die persönlichen Folgen der direkt involvierten Privatpersonen (und aller Menschen in ähnlichen Verfahren) – und haben eine nicht abschätzbare Strahlwirkung auf die Gesellschaft – und die Bemühungen im Ausgleich der Geschlechter. Das Dilemma ist offensichtlich:

Auf Grund dieser Beispiele wird es für betroffene Frauen keinen Deut einfacher, den Mut zu finden, tatsächliche Übergriffe anzuzeigen. Und die Justizorgane haben kaum geeignete Instrumentarien, um umgekehrt nicht zum Handlanger persönlicher oder politischer Intrigen zu werden, wenn böswillig beschuldigt wird. Es ist unheimlich schwierig, eine Balance zu finden zwischen dem Schutz der Schwachen und dem Recht auf die Unschuldsvermutung der Angeschuldigten. Wie sich das alles auf unseren Umgang im Alltag auswirken wird, lässt sich erst vermuten. Wenn ich höre, wie mir ein Kollege mit Führungsverantwortung sagt, er würde in der Firma in keinen Aufzug mehr steigen, wenn sich darin eine Frau allein befindet, dann mag das paranoid erscheinen. Die Aussage macht dennoch nachdenklich, denn aus dem plötzlich geweckten Bewusstsein, dass ein Übergriffsvorwurf leicht gravierende Folgen haben kann, wird schnell mal ein Glaubwürdigkeitsproblem für alle tatsächlich betroffenen Frauen.

Ich kann mir die Auftritte aller möglichen Protagonisten im Fall Kachelmann noch so oft vergegenwärtigen: Mir wird noch immer übel bei allen möglichen Medienerzeugnissen zum Thema – und ich vermag auch überhaupt nicht zu verstehen, was eine Anwältin der Frauensache wie Alice Schwarzer geritten haben mag, sich so sehr in die Angelegenheit zu versteigen.

Die Art und Weise, wie die Berichterstattung sich in pro und contra Kachelmann aufspaltete, erzeugte ein Unbehagen, das bei der medialen Nacharbeitung nicht kleiner wird. Wenn Medien sich zu Richtern aufspielen – und Staatsanwaltschaft wie Verteidigung sich dieser Kräfte bedienen – dann ist praktisch alles verloren, was die schlichte nüchterne Rechtssprechung durch ein entsprechendes Verfahren zur Klärung beibringen könnte.

Die Lösung scheint utopisch, aber eine andere gibt es im Grunde nicht:

Wird ein Strafverfahren wegen eines Sexualdelikts angezeigt, so hat jede Berichterstattung in Wort und Bild darüber zu unterbleiben, so lange kein Urteil vorliegt. Allenfalls kann und soll über den Stand des Verfahrens in seiner nüchternen juristischen Sachlage informiert werden. Jede weitere Information ist verboten.

Wir sind im Grunde so weit, dass dieser Anspruch einem Menschenrecht auf persönliche Integrität entspricht und nicht zuletzt auch für die klagenden mutmasslichen Opfer einen Schutz darstellen würde. Ist mit Hintergrundinformationen kein Geld zu verdienen, weil diese Informationen gar nicht verwertet werden können, ist es auch für Opfer einfacher, glaubhaft zu wirken, weil der Verdacht einer finanziellen Bereicherung auf Kosten des Angeklagten in vielen Fällen wegfällt. Will man einen politischen Gegner ausbremsen oder einen Karrierekonkurrenten diskreditieren, mag dies alles nicht genügen. Es geht aber nie darum , Regeln für alle Fälle zu erstellen – wohl aber zum Wohl des Grundanliegens, für das eine Norm geschaffen wird – und das im Sinn der Gesellschaft liegt, welche mit diesen Gesetzen lebt – und gut zusammenleben will.

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Linksammlungen zum Thema:
Artikelsammlung Strauss-Kahn – Chronologie
Meinungen und Artikel zur Causa Kachelmann
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