Mein Schreiben. Täglich.

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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Die Kirche, die anderen und wir - Fehlleitungen überall...

∞  14 März 2010, 17:01

Was Jesuitenpriester im Canisius-Kolleg vor 30 Jahren angerichtet haben, ist schlimm. Das ist keine Frage. Dennoch darf die Gefahr, als Verharmloser gebrandmarkt zu werden, nicht verhindern, auf weitere Fakten hinzuweisen – statt die Frage des Missbrauchs von Autorität gegenüber Kindern voreilig hauptsächlich zu einem Thema katholischer Einrichtungen zu machen – und darüber hinaus das Zölibat zur Ursache zu stempeln.
Als Fortführung der Berichterstattung über die Missbrauchsfälle im jesuitischen Canisius-Kolleg hat der Spiegel (Print) Verdachtsfälle von Kindesmissbrauch in katholischen Einrichtungen seit 1995 zusammengezählt. Es hat genau 100 Fälle zusammengetragen.
Die Zeit hat nun (Print Nr. 7/2010, “die teuflische Gefahr”) weiter gerechnet und zeigt auf, dass dies bezogen auf die rund 600’000 katholischen Priester und Mitarbeiter in solchen Einrichtungen bedeutet, dass “der durchschnittliche deutsche Mann mit 36mal grösserer Wahrscheinlichkeit übergriffig wird als der katholische Priester”.

Nun sind alle Statistiken zu diesem Thema ungenau, die Dunkelziffern sind bestimmt noch immer hoch, aber wenn damit schon hantiert wird, dann muss eine solche Aussage eben auch relativiert werden – und das gibt dann die Gelegenheit, nach einem tiefen Durchatmen auf jene Dinge zu verweisen, welche meiner Meinung nach wirklich der Kern des Problems sind:

1.
Kindsmissbrauch tritt naturgemäss vor allem dort auf, wo ein Autoritäts- und Vertrauensverhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen aufgebaut wird, und das ist nun mal in Schulen, Kirchen, Internaten und Sportvereinen häufiger der Fall als anderswo.
2.
Diskutieren wir vielleicht deshalb so engagiert und vergessen dabei zu erwähnen, dass wir fast immer Fälle aus ferner Vergangenheit thematisieren, weil wir im Stillen wissen, dass es noch immer schwer fällt, hin zu sehen und aktuelle Fälle anders zu handhaben?
3.
Wäre es nicht an der Zeit, statt die Diskussion auf die Fehlbaren zu fokussieren, uns einmal darüber zu unterhalten, inwiefern wir selbst Mühe haben, in einer so rigoros sexualisierten Welt ein Mass zu wahren, eine Scham zu bejahen und dafür einzustehen, dass es Tabus und Schutzzonen gibt, welche wir nicht nur zum Schutz der Kinder aufrecht erhalten sollten – sondern auch, weil sie uns selbst, weil sie allen Menschen gut täten? Ich denke da einmal mehr z.B. an die Formen der Werbung, welche wir in TV-Programmen nach Mitternacht tolerieren. Manchmal kommt es mir so vor, dass wir, wenn es um den Schutz der Kinder geht, kompensatorisch losbrüllen, wenn das Kind schon im Brunnen liegt. Es ist dann nur einfach ein bisschen zu spät für Vieles.
4.
Sollten wir sehr kritisch gegen jene Stimmen bleiben, welche die aktuellen Themen dazu benutzen wollen, Debatten zu führen, die nun einmal nicht wirklich ursächlich mit dem Problem des Kindmissbrauchs zusammen hängen:
Der Zölibat ist allenfalls die Ursache für eine grosse sexuelle Not der Betroffenen, aber er begründet keine Pädophilie, führt aber ganz offensichtlich bei immer mehr Priestern zu einer Untreue gegenüber einem Gelübde, das viele von ihnen wohl immer weniger bewusst und im Besitz der spirituellen Kraft leisten, die dazu Voraussetzung ist. Ob sie es darin im Lauf ihrer Priesterlaufbahn immer schwerer haben, sich mit spiritueller Energie aufzuladen, kann ich nicht beurteilen.
5.
Muss sich unsere Kritik mit aller Vehemenz gegen jene Vorgesetzten in allen Institutionen richten, welche sich gegen die Aufklärung von Verdachtsfällen stellen und eher vertuschen als offenlegen wollen. Es liegt an wirlichen Autoritäten, für innere Klarheit in den Institutionen und betreffend der Personen zu sorgen und diese in der Folge in einer Weise zu begleiten, welche allen Seiten Rechnung trägt – aber ganz sicher verhindert, dass falsch verstandene Toleranz die Hüter der Deckmäntelchen zu Mittätern macht. Und dies gilt nicht nur für Bischöfe und andere Kirchenvertreter. Es gilt auch für Schulvorstände, Polizei und Sozialämter. Nur dadurch wird sicher gestellt, dass über kurz oder lang eine neue Kultur Einzug erhält, welche auch der überbordenden Hysterie entgegen tritt und verhindert, dass sich zukünftig ein Lehrer im Turnunterricht ständig an der Schwelle der Denunziation bewegen muss.

Wir alle müssen uns um einen natürlichen Umgang mit einander und mit dem Thema Sexualität bemühen. Kein anderes Thema ist in unserer Gesellschaft so sehr übersteigert thematisiert – und dabei so “unerledigt”. Es ist mit unsere privateste Angelegenheit. Und doch meinen wir beständig, einer Norm genügen zu müssen und zerren Dinge an die Öffentlichkeit, die da nichts verloren haben. Wir sind weit davon entfernt, Natürlichkeit gewonnen zu haben. Man betrachte sich die Werbung, verfolge die Tendenzen in der Musikindustrie, etc. Unsere Sprache ist von Ausdrücken durchsetzt, die alle sexuell motiviert und in aller Regel eher negativ besetzt sind. Wir thematisieren Sexualität offener, aber auch härter – als würden wir versuchen, eine Frustration loszuwerden, welche um so hartnäckiger an uns klebt, je mehr wir damit in der Gegend herumfuchteln.