Mein Schreiben. Täglich.

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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Die heutigen Boote sind noch viel weniger voll

∞  4 Oktober 2013, 16:15

Wir haben sie noch im Ohr, die Diskussionen rund um die Aufarbeitung des Umgangs mit geflüchteten Juden im zweiten Weltkrieg, und es wurden und werden Milliarden von Reparationszahlungen geleistet. Das Boot war nicht voll, heisst es vorwurfsvoll.

Die reiche Schweiz als Profiteur, als hartherziges Land mit Barrierementalität, Schande über uns. Und wer wollte widersprechen? Es war bestimmt mehr möglich, es war aber wohl auch nicht so wenig Rückgrat vorhanden, wie man nun vorwirft. Auf jeden Fall war diese Aufarbeitung überfällig. Und doch ist sie in gewisser Weise ein schlechter Witz. Denn die aktuelle Flüchtlingspolitik, die wir betreiben, ist mindestens so dreckig – und das ohne die unmittelbare kriegerische Bedrohung aggressiver Nachbarstaaten. Bedroht sind einzig und allein unsere Konsumtöpfe; und eine diffuse Angst um unsere Jobs und die Wohlfahrt zu eigenen Gunsten ist vielleicht auch noch da. Aber genügt das, um zu erklären, was wir zulassen – oder gar verursachen?

In Lampedusa sterben die Bootsflüchtlinge seit Jahren. Aber nun ist ein Drama geschehen, das aufrüttelt, mit hunderten vor den Augen der Retter ertrinkenden Flüchtlingen . Zumindest so lange beunruhigt es, dass auch hier einmal etwas zu lesen ist. Für den Moment. Aber es ist schon Zeit, uns mal den Spiegel vorzuhalten:

Für die Flüchtlinge aus Afrika, die vor Italien angeschwemmt werden, ist die Politik der EU massgeblich mit verantwortlich. Der Despot Ghadhafi ist tot, und wie haben wir gejubelt, dass diese Ausgeburt des Bösen endlich unter die Erde gekommen ist. Aber mit dieser Figur hat die EU wunderbare Geschäfte gemacht. Ansehen, Teilnahme am wirtschaftlichen und politischen Weltgeschehen, Öllieferungen gegen die Zusage, die Flüchtlinge zurück zu halten und mit harter Hand dafür zu sorgen, dass die Ärgernisse vor Lampedusa ausbleiben oder zumindest selten vorkommen. Das mit der harten Hand wollten wir nicht so genau wissen, ist schon klar, aber das Schlagwort, dass das Flüchtlingsproblem vor Ort, auf dem Kontinent selbst zu lösen ist, hat Ghadhafi ganz bestimmt anders interpretiert, als es dem europäischen Schöngeist entspricht.

Nun nimmt das Problem enorme Formen an, und das heutige Libyen hat gar keine Handlungsmacht, etwas dagegen zu unternehmen, mit welchen Mitteln auch immer.
Wir sollten übrigens gar nicht auf die Idee kommen, mit dem Finger auf Italien und Griechenland zu zeigen: Wenn im EU-Verbund nach Lösungen gesucht wird, welche die Übernahme von Flüchtlingen von den zwei Staaten beinhaltet, gibt es dafür immer nur zwei Ja-Stimmen. Es werden schon gar keine solchen Lösungsversuche mehr unternommen.

Wenn wir also, die wir heute im befriedeten konsumgeilen Europa leben, mit dem Finger auf die Generation des zweiten Weltkriegs zeigen, dann sollten wir den Finger krümmen und ihn uns in den Mund stecken. Denn wir schaffen es nicht, eine humanitäre Lösung für ein Problem zu finden, das nur unsere wirtschaftliche Prosperität bedroht.

Wir schaffen Gesetze für den nationalen Umgang mit Asylsuchenden und scheren dann alles über den einen Leist, der das Geld giesskannenartig verteilt, so dass es genügend Fälle gibt, in denen Hardliner aufheulen und über Sozialschmarotzer wehklagen können. Ungestraft, weil auch richtig, irgendwie. Und so lassen wir die Schicksale all dieser Menschen trotz oder wegen der ganzen Bilderflut gar nicht an uns heran.

In zwanzig Jahren kann man dann uns fragen, wie voll das Boot denn war? Ein Boot, das zudem im sicheren Hafen liegt und nicht im Sturm eines fürchterlichen Krieges auf hoher See schaukelt.

Pfui Teufel, wird dann die Antwort sein. Mit Recht. Und vielleicht bezahlt der Staat dann auch da Reparation. Nur, an wen? Welche Lobby wäre dafür stark genug?