Mein Schreiben. Täglich.

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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Die Garantien des Gemeinwesens hängen von uns ab

∞  15 April 2009, 18:48

Auf dem Rückflug aus den Ferien, so quasi mit Anlauf in den Alltag, las ich ein wie ich finde interessantes Inerview der NZZ am Sonntag mit Erzbischof Reinhard Marx. Vor allem ein Satz hat sich mir eingeprägt. Er hat mich förmlich angesprungen. Im Zusammenhang mit der Frage der Altersversorgung (und den Anlagevehikeln für Pensionskassen und dergleichen) sagte er:


Ich möchte als Arbeitnehmer doch eher meine Altersversicherung von der Solidarität eines Gemeinwesens erwarten als vom Aktienstand der Telekom oder anderer.


Das ist genau der Punkt: Wir alle mucken nicht auf, wenn Politiker die “hohe Staatsquote” monieren. Damit sind zu hohe Steuern und Abgaben aller Art auf Einkommen gemeint, die es Firmen erschweren, in einem bestimmten schönen Land zu investieren. Wir sagen: Jawoll.

Und erklären damit eigentlich den Bankrott des Systems, an das wir zu glauben vorgeben. In einer direkten Basisdemokratie sind dieser Staat nämlich wir. Wir sind nicht nur aufgefordert, Steuern zu bezahlen, sondern auch, das Gemeinwesen aktiv mitzugestalten – und damit Einfluss darauf zu nehmen, wie diese Steuergelder verwaltet und eingesetzt werden. Wenn wir dem Staat misstrauen, ohne zu sagen oder zu ergründen, was an ihm denn falsch ist und in ihm schief läuft, dann begehen wir einen Verrat an jeder Grundidee, die dem Bürger-Staat als Gemeinwesen jemals mitgegeben worden ist. Wir schreien aber lieber: “Tiefere Steuern”, sobald wir annehmen dürfen, dass wir nicht diejenigen sein werden, welche die Zeche am Schluss bezahlen werden. Wir glauben den Stuss, dass liberale, möglichst deregulierte Systeme den grösstmöglichen Nutzen für alle bringen werden, weil sie für schlanke Strukturen und tiefe Kosten sorgen.

Das Gemeinwesen aber funktioniert anders. Wie die Demokratie als Idee setzt sich jede wirklich funktionierende Gemeinschaft auch der Frage aus, welches die Bedürfnisse und die Meinung all’ jener ist, die zur Minderheit gehören: Nur wer Stimmung und Befinden derjenigen, die nicht zu den Stärksten gehören, mit einbezieht, sorgt für wirkliche Lebensqualität. Die richtet sich nämlich nicht nur nach den unbegrenzten Möglichkeiten der Sieger, sondern nach der Verbreitung eines hohen Standards. Und darum demaskiert sich eine deregulierte und enthemmte Gesellschaft fern jedes Finanzskandals auch dadurch, wie sie mit der Forderung nach Privatisierung öffentlicher Dienste umgeht:

Strommarkt, öffentlicher Verkehr, Post, um nur einige zu nennen: Es gibt in einer wirklich sozial wohlstandsfähigen Gesellschaft einen Sinn für einen service public, der die Poststelle betreibt, auch wenn sie gar nicht rentabel sein kann.

Ein solches System nimmt auch ein paar Schmarotzer in Kauf, Profiteure und Reibungsverluste, die nie alle wirklich sein müssten. Aber sie leistet sich ein paar Grund-Annehmlichkeiten für alle, die unter dem Gesichtspunkt des Wettbewerbs nicht alle erhalten blieben, wenn diese Wettbewerbsfähigkeit nur per Excel-Kalkulation berechnet würde.

Vielleicht ist die Finanzkrise ja doch noch zu etwas nutze. Sie sollte und könnte uns empfindlicher machen für so manches Geschwafel einer Globalisierung, die nichts anderes meint, als enthemmtes Gewinnstreben. Aber in Wirklichkeit will niemand von uns einen gedopten Sieger im Hundertmetersprint. Das Wort Wettbewerb meint explizit auch: Regeln.