Mein Schreiben. Täglich.

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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Die Entscheidungen für meine Zeit

∞  17 Mai 2012, 17:29

Je nach Gemütslage beobachte ich mich interessiert oder genervt: Seit ich keine klassische Vollzeitbeschäftigung mehr habe, sondern mir meine Zeit freier einteilen kann, arbeite ich viel mehr als jemals zuvor. Die Freiheit, mir meine Projekte und die Arbeitszeit einteilen zu können, wenigstens zu einem wesentlichen Teil, führt dazu, dass ich nicht etwa weniger arbeite, sondern mehr.

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Ich darf ruhig sagen, dass ich nie so viel geleistet habe wie in dieser Lebensphase. Viele dieser Dinge sind Projekte, auf die ich mich freiwillig eingelassen habe, einige davon zeichnen sich dadurch aus, dass sie nur eine beschränkte Zeitdauer laufen, einige haben sich aber auch verselbständigt, indem sie zu einem Teil meines Alltags geworden sind, der mir wichtig ist. Und dann ist die Schwelle manchmal klein, die, einmal überschritten, einen Druck aufkommen lässt, der genau so wie bei einem Arbeitnehmer, der seine Stunden in Präsenz abzuarbeiten hat, darin gipfelt, dass man zu denken beginnt: “Ich muss noch…”, oder, was noch mehr Stress bedeutet, weil man sich innerlich nicht dazu aufraffen, es aber auch nicht abschütteln kann:
“Ich sollte noch…”.

Es ist ein Privileg, Entscheidungen über “eigene Zeit” treffen zu können, aber eine Kunst, sich nicht in obigen Konsequenzen zu erschöpfen. Nun gehört zu einem Projekt, und mag es täglich auch nicht ganz so viel Zeit in Anspruch nehmen, auch Disziplin, wenn es über eine lange Zeit am Leben gehalten und weiter entwickelt werden soll. Und genau diese Disziplin erfordert auch die Bereitschaft, sich mahnen zu lassen, sich selbst zu stupsen und zu bejahen, dass es heisst: “Du musst noch.”

Es gibt, natürlich, so viele schöne Momente, die daraus folgen können, aber es gilt auch, dass die eigene Zeit immer knapp werden kann, ganz egal, ob man einen Chef hat, der einen an Pflichten erinnert, oder die Mahnung nur in den eigenen Erwartungen begründet liegt. Es scheint ganz so, als würde man zuviel Freiheit nicht ertragen… Vielleicht liegt das Problem auch nur in der Vielfalt der Dinge, die an uns heran getragen werden und in denen wir uns betätigen können: Die Vielfalt wird bedrohlich, statt attraktiv, wenn sie uns suggeriert, dass da immer mehr wäre, als das, was wir aus ihr heraus ziehen.

Category Manager, die sich um das Regalangebot in Supermärkten kümmern, beschäftigen sich heute oft sehr eingehend mit dem Problem, das die Vielfalt des Warenangebots beim Kunden auslöst: Die Freiheit der Wahl droht im Kaufverzicht zu gipfeln, weil die Fülle der Möglichkeiten den Entscheid verunmöglicht. Zuviel Stress durch die Menge möglicher Entscheidungen. Darin liegt nach einhelliger Meinung ein Teil des Erfolgs der Discounter begründet: Wer keine Zeit zum Einkaufen hat, will gar nicht überlegen müssen, ob er Vollkorn-Nudeln oder solche ohne zugesetzte Eier kaufen soll – er will Nudeln, sie sofort finden und schnell wieder aus dem Laden draussen sein.

Also, so schlimm ist es bei mir noch nicht: Ich gehe gerne in den Markt mit dem Angebot mit Auswahl. Dass er günstigerweise sehr nahe liegt und mir damit diese Entscheidung sehr leicht fällt, ist aber auch wahr. Wir bestimmen unsere ganz persönliche Lebensqualität wirklich durch die Art und Weise, wie wir mit jenem Teil der Zeit umgehen, den wir zu unserer Verfügung haben. Und vielleicht erhöht sich diese Qualität, wenn wir erkennen, dass von der vermeintlich fremdbestimmten Zeit ein gutes Stück zurück zu gewinnen wäre, weil längst nicht alles so vorgegeben ist, wie wir an 360 von 365 Tagen im Jahr ernsthaft behaupten.