Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Der Tag, an dem ich Frau Güte und Frau Würde begegnete

∞  18 Januar 2010, 19:56

Ein Wintertag in den letzten Wochen, in einer Reihe anderer und doch gleicher Tage dieser Zeit, mit kalten Temperaturen, aber eigentlich eher trocken. Mittlerweile zu Knubbeln festgepresste Schneereste liegen schon seit Tagen auf den geteerten Wegen, welche das Kulturland unter dem Dorf in grosse Rechtecke schneiden. Von Zeit zu Zeit holpert ein Auto vorbei. Zubringerdienst ist gestattet. Weit vor mir gehen zwei Frauen. Die jüngere steht immer wieder ruhig still und blickt zurück, der Rücken gerade, die Taille schlank, der dunkle Mantel elegant geschnitten. Sie hält sich die Kragenspitzen gegeneinander geklappt vor den Mund. Ihr folgt eine alte Frau in einem schweren, dicken Wollmantel, dessen Saum dreissig Zentimeter über dem Boden hängt. Darunter hervor lugen absurd dürre Beine in Wollstrümpfen, die in dick besohlten Halbschuhen vorwärts schlurfen, Schritt für Schritt. Die Frau stützt sich auf einen Rollator. Die Alterswohnungen liegen vielleicht vierhundert Meter entfernt.

Für diese Frau sind diese Meter die Herausforderung des Tages – und wahrscheinlich ist es, in der Relation besehen, mehr, als ich selbst mir an diesem Tag abverlangen werde an Selbstüberwindung. Ganz sicher sogar. Die Tochter sieht zu, wie ihre Mutter den Rollator gedankenverloren ins Seitenbord steuert und am Gestell ruckelt, als würde sie das Ding gleich zum Schneepflug umfunktionieren wollen. Ich erreiche die Frau und grüsse sie freundlich, dann nicke ich der Tochter zu. In ihrem Gesicht liegt keine Spur von Unwillen, aber sie macht auch keine Anstalten, zurück zu gehen und ihrer Mutter zu helfen. Sie ruft ihr zu:
“Komm, lass uns weiter gehen.”

Es ist das Gespräch zwischen Mutter und Kind – in vertauschten Rollen. Ich weiss nicht, ob ich das so könnte: Ich begreife, dass dies eine letzte Würde ist, welche die Tochter ihrer dementen Mutter unbedingt lassen will, und so lässt die Tochter sie eben die Erfahrungen machen, die ihr noch möglich sind – und füllt die quälende Zeit und Mühsal mit ihrer Geduld an und jener Form von Güte, welche die eigene innere Zeituhr zu Hause gelassen hat – und gleichzeitig dafür verantwortlich war, die Mutter an die frische Luft mit zu nehmen. Nach einer Minute schaue ich zurück. Die alte Frau hat ihr Stützgefährt wieder in die Spur gebracht, die Tochter erreicht, und diese nickt ihr zu. Die alte Frau senkt danach den Blick wieder auf den Boden und macht mit neuer Konzentration den nächsten Schritt. Aber ich bin sicher, dass ich mir nicht nur einbilde, dass sie dabei gelächelt hat.

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Und passend zu diesem Beitrag noch eine Erinnerung an einen früheren Text:
Zwei alte Frauen
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