Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Der Staat - das waren mal wir. Jetzt sind wir nur noch Markt.

∞  4 Februar 2010, 22:24

Der Versuch eines Pamphlets, der sein inneres Scheitern schon im ersten Satz vermutet. Es wird dennoch geschrieben. Der Blogger hier braucht es. Betrachten Sie es als den Versuch einer Psychohygiene, auch wenn es wohl mehr blosse Verzweiflung und Überdruss ist.

Ich knabbere dieser Tage, ja eigentlich schon seit Jahren, an der Abnutzung, mit welcher unser aller Sensibilität für Gemeinschaftsfragen abgeschliffen wird. Es scheint mir ganz so, als hätte die allgemeine Beschäftigung mit der so genannten Selbstverwirklichung, die Frage nach der eigenen Karriere für alle, die Betonung des Konsums für die Wirtschaft und die Kaufkraft als Lebensqualität des Einzelnen in unsere Gesellschaft einen Keil getrieben. Mag es früher die Frage gewesen sein, welchen Beitrag man zum Gemeinwesen leisten solle, damit dieses in der Identifikation nach innen wie aussen seine Aufgabe als Basisfundament einer Prosperität für alle erfüllen könne, so lautet heute der Anspruch an andere und alle: So viel Freiraum wie möglich, was wir nicht mit Freiheit verwechseln sollten: Das Regulativ, der Selektionär, der Prüfling und Lehrer ist der Wettbewerb. Und der ist in sich fair, weil unbestechlich, wenn Angebot und Nachfrage nur frei genug ihre Wechselwirkungen entwickeln können. Niemand kommt auf die Idee, diesem Wettbewerb als Gruppe zu begegnen. Er wird stets als Herausforderung des Einzelnen verstanden, und folgerichtig ist der Nächste einer, der tendenziell stört, weshalb sich die Qualität des Staates danach bemisst, wie wenig er dies zulässt.

Was wird wohl in diesem System geschehen, wenn der Wettbewerb entschieden ist? Es bedeutet dann nämlich, dass das Rennen einen Sieger kennt. Wettbewerb in sich hat am Ende niemals zwei Gewinner. The Winner Takes It All. Die Nummer zwei kommt zum Ergebnis, dass sie die Nummer drei schlucken muss, weil sie nur als neue Nummer 1 noch billiger noch mehr produzieren und damit noch mehr Gewinn machen kann. Das soll dann auch Wettbewerb sein, denn der Sportler, der Spitzensportler, will nicht nur immer gewinnen, er will auch die Rekorde. Sport ist hier überhaupt ein guter Indikator. Wie lange ist es her, dass in Nachrichten aus dem Sport allenfalls noch der Sieger genannt wird, aber der Zweite und Dritte schon nicht mehr erwähnt werden? Heute sollen die fünfzig grössten Privatkonzerne der Welt die Hälfte unserer Ressourcen kontrollieren. Der Wettbewerb ist die Maxime des Globus, und er wird neue Götter gebären: Die Kontrolle des Trinkwassers, den Soja-Handel weltweit, Grundnahrungsmittel und – vor allem Rohstoffe. Die Kolonialherren wechseln, das System bleibt das gleiche. Im globalen Markt erst recht. Diesen globalen Markt gibt es für uns Konsumenten übrigens nicht wirklich. Nicht wir entscheiden, woher unser Spielzeug kommt oder die Computerbauteile. Unser Qualitätsanspruch wird zwar kolportiert, aber wir haben längst die grundsätzlichen Paramter der Anbieter übernommen: Wir werden so schnell mit neuen Produkten gefüttert, dass wir nicht lange über Unzulänglichkeiten alter Produkte lamentieren mögen. Wenn ein Markt gemäss Fachkreisen “funktioniert”, so heisst das eigentlich nur, dass das Geld diesen Markt aussucht und sich darin vermehrt. Denn Geld, das Finanzwesen, die Investitionsvoluminas sind das tatsächlich einzige Teil des Wirtschaftsmotors, der wirklich weltweit frei zirkulieren kann, schnell, rasend schnell, selektiv, unter Abwägung aller objektiven Wettbewerbskriterien: Rendite, Return of Investment, Marktanteile, Dominanz.
Der Konsument ist noch anonymer als der Lieferant. Ist das der Grund, dass er sein Gesicht zu finden sucht, indem er sich mit Marken definiert? Der Anonymste allerdings ist der Arbeiter hinter dem Hersteller.

Äh, wie habe ich mich jetzt hierher geklagt? Ach ja, der Verlust des Gemeinschaftssinns. Wir verstehen heute den Begriff “Staat” ganz anders als vor zwanzig Jahren. Der Staat hat eigentlich nichts mehr mit uns selbst zu tun. Er steht ständig im Verdacht, zu stören, zu gefrässig zu sein – oder wir bauen mit ihm Frustpotential ab: So lange der Staat auf andere eindrischt, fühlen wir uns plötzlich stark:

Schärfere Gangarten gegen Ausländer. Wir setzen den Staat ein für den Kampf “gegen die anderen”. Aber so wirklich sind wir ihn nie selbst. Glauben Sie mir:

Das war früher anders. Staatskunde war ein Schulfach, der Bürger ein Gemeindemitglied. Der Staat, das waren wir alle. Er war das Stück Kultur, das Kultur wollte, um selbst kritisiert zu werden.


Er war unser Vertreter im Umgang mit Nachbarn, und er war das erste und beste Beispiel einer schlussendlich zu findenden Konzilianz. Und wenn man ihm auf die Finger klopfen musste, so hat man das getan – und es hat funktioniert. Weil es stets genügend Leute gab, welche die Schaufel fallen liessen und denen die Pfeife aus dem Mund fiel, wenn sich Väterchen Staat allzu toll gebärden wollte: Wir gaben dem Staat Regeln und hatten dabei stets das Bewusstsein, dass, so lange wir diesen Regeln Sorge tragen und sie laufend überprüfen würden, und zwar als Mehrheit mit dem Sinn für Minderheiten, so lange würde dieser Staat, würden wir die Sicherheit haben, dass die hauptsächliche Kontrolle, die vom Staat ausgehen würde, nie grösser sein würde wie unsere Kontrolle über den Staat.

Das trauen wir uns heute längst nicht mehr zu. Der Staat ist längst ein fremdes Gebilde, an das wir Forderungen stellen. Dabei gebärden wir uns allerdings oft wie frustrierte oder unflätige Schüler, welche plötzlich die Lehrperson entdecken, wenn es darum geht, ein vermeintliches Unrecht zu sühnen. Meistens ist der Staat allerdings weit weg, und es scheint uns relativ gleichgültig, was er auf welchen Grundlagen macht.

Wir betrachten jeden politischen Laut doch schon längst als Lärm und Wahlkampf, und vielleicht ist das auch schon alles, was darin zu sehen und zu hören ist.


Denn die Politik, die wird, siehe oben, längst auf anderen Ebenen gemacht.
Es könnte sein, dass sich das wieder einmal ändert, dass es dann aber nichts mehr gibt, das wir zurück erobern könnten, weil die Essenz verloren gegangen ist: Hunderte von deutschen Gemeinwesen sind praktisch pleite, die Verschuldung in führenden westlichen Industriestaaten ist unvorstellbar hoch, die chinesischen Worte der “Diplomatie” enthalten gegenüber den USA unverhohlene Drohungen – die Sprache der Macht hat immer einen schnarrenden, kalten Ton, ganz egal, aus welchem Land sie kommt. Wir werden derweil abgelenkt. Die Politik kümmert sich um die kleineren, scheinbar greifbaren Dinge, und wir erkennen den Teufel nicht, der uns reitet:

Aus “denen da oben” sind längst “die da drüben” geworden.


Wir errichten neue Gärtchen und Zäune, und vielleich werden daraus wieder Schützengräben. Unser Schicksal aber wird längst wo anders entschieden. Ist das Grund genug, den Versuch aufzugeben, gegenüber allen Seiten die Rechtsstaatlichkeit aufrecht zu erhalten? Ich finde nicht. Und Sie?