Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Der Grosse und der Kleine

∞  14 Juni 2013, 21:11

Der grosse Bruder, die kleine Schwester – es ist oft schwer, aus den üblichen und so lange gepflegten Mustern und Hierarchien heraus zu wachsen. Gelingt es je ganz?

Ich habe einen Bruder, der fast zehn Jahre älter ist als ich. Ich habe ihn bewundert, zu ihm aufgesehen – und er war mir in meinen Bubenjahren eine Art Zweitvater, eine weitere Instanz, der ich nacheifern konnte – und erst auch wollte.

Heute weiss ich, dass mein Bruder mir dabei auch Grundwerte mitgab, eine Haltung und Zielstrebigkeit vorlebte, von der ich zumindest wusste, wie wichtig sie für die Erreichung vieler Ziele sein konnte. Aus der Bewunderung wurde Abgrenzung. Ich kam in ein Alter, in dem ich mehr wollte, als der Kleine zu sein – und er interessierte sich gerade gar nicht mehr für mich – in gesunder Weise waren längst Freundinnen wichtiger. Ich war noch Zielperson, wenn es darum ging, zu überprüfen, ob ich auch den geraden Weg gehen würde, und so allmählich ging mir das auf den Sack. So hätte ich das da wohl ausgedrückt, und ich begann, das Vorbild als Last zu empfinden, wählte bewusst nicht das genau gleiche Studium, war aber in vielen Bereichen gleichwohl ähnlich unterwegs, wie er es vorgegeben hatte. Aber mir fehlte der Drang, mich beweisen zu wollen, ich erkannte darin bereits einen Mechanismus, der mich in ein Wertesystem zwängte, in dem ich reine Äusserlichkeiten als bestimmend erkannte, und nicht etwa tatsächlichen Gehalt. Ich registrierte, dass es nicht nur wichtig zu sein schien, was man arbeitete, sondern auch wo – etwas, was mir völlig fremd blieb. Ich wollte gestalten, schaffen, auch Geld verdienen, ja, aber nicht als Jünger einer Horde von Schlips tragenden Pinguinen. Mir war es völlig egal, in welcher Art Büro ich sass und ob das in irgend einer Weise “repräsentativ” war.

Mir war das Trachten nach der Anerkennung jener, für die ich eh nicht genug sein konnte auf Grund meiner Herkunft, auf Grund der Produkte, die ich verkaufte, nicht die Mühe wert. Ich würde diese Anerkennung nie bekommen, aber auch viel Energie sparen durch die ersparte Mühe, die Insignien einer Zugehörigkeit zu pflegen, die einem unbesehen vom eigenen Wert als Mensch genommen würde, kaum verlöre man an Macht und Einfluss, an “Stellung”. Auch daran war mein Bruder mit schuld, denn er hatte mir den Weg vorgespurt, den Kopf an mancher Ecke angeschlagen, die für mich schon abgeschliffen war, wenn ich an den gleichen Punkt kam, so dass ich diese Hechelei nach Rängen von mir schob, bevor ich ins Rennen kam.

Heute sind wir beide “was geworden”, brauchen einander nichts neidig zu sein und können doch anerkennen, dass beide Wege an ein Ziel geführt haben, das Zufriedenheit erlaubt, Demut mahnt und Glück möglich macht. Es geht uns gut.

Doch bleibe ich nicht immer der kleine Bruder? Wohl schon. Aber die Überheblichkeit, es an meiner Stelle sicher besser zu wissen, ist weg. Heute können oder könnten wir uns Rat von einander holen. Vielleicht würden wir abstreiten, den dann auch je zum Mass unseres Handelns zu machen, aber es ist doch ein gutes Gefühl geworden, zu wissen, dass da einer ist, der mit einer ähnlichen Kindheit und der gleichen Erziehung in die Welt hinaus gewachsen ist – und sich an dieser Welt reibt.

Und immer wieder staunen wir wohl auch: Dass man “mit dem gleichen Blut” und aus dem gleichen Haus heraus so unterschiedliche Lebensentwürfe, Sichtweisen, Gefühlswelten entwickeln kann? Und gleichzeitig gibt es viele Gemeinsamkeiten in Gehabe, Ausdrucksweise, Äusserlichkeiten – wir könnten nie leugnen, gemeinsame Wurzeln zu haben. Dass wir es auch nicht wollen – das ist gar nicht so wenig. Es ist schön. Möge es ihm gut gehen. Er hatte es als der Grosse von uns Beiden bestimmt oft schwerer – auch und gerade, als wir noch unter dem gleichen Dach wohnten.