Mein Schreiben. Täglich.

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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Der Bundespräsident aller Einwohner

∞  11 Oktober 2010, 20:47

Christian Wulff, neuer deutscher Bundespräsident, hat zur zwanzigjährigen deutschen Einheit sich nicht gescheut, das wirklich heisse Eisen anzusprechen. Ich schreibe bewusst “ansprechen” und nicht “anfassen”, denn mit seiner Bemerkung, der Islam bzw. die Muslime würden zu Deutschland gehören, hat er die Islam-Debatte in Deutschland auf der Ebene weiter befeuert, auf der sie in ganz Europa geführt wird: Intellektuell, als Bildungsbürger und Mann der guten Absicht, aber fern konkreter Massnahmen. Genau so gefallen wir uns alle in der Debatte rund um die Integrationsprobleme von Migranten mit muslimischem Religionshintergrund.

Eigentlich hat der Herr Wulff gar nichts Falsches gesagt, und hätte er sich auf die Bedeutung der Aussage konzentriert, dass er der Bundespräsident aller in Deutschland lebenden Menschen sei, dann hätte daraus was werden können. Etwas Handfestes, ein Ansatz, der allen Menschen aufgezeigt hätte: Aha. Wir sind ein Miteinander, wir tragen Verantwortung – und umgekehrt fühlt sich ein Staatsoberhaupt verantwortlich. Für uns alle.

Es hätten keine Unterschiede platt geredet und kein Problem negiert werden müssen, es hätte schlicht die Aussage bedeutet, dass wir alle den jeweiligen Staat bilden, in dem wir leben. Und wir alle können unsere freie Meinung darüber haben, wie und in welcher Weise der Staat auf seine Bürger Einfluss nehmen kann und soll. Wir bleiben ihm dabei mitgestaltend unter- und eingeordnet. Bei Buddhisten z.B. wäre es wohl auch bei einer ähnlichen Bemerkung geblieben. Kein Mensch und also auch kein Politiker käme auf die Idee, die einheimische Kultur in einem grossen Gedankenschweif mit derjenigen der Buddhisten gleich zu setzen.

Nun leben vier Millionen Musliminnen und Muslime in Deutschland, und damit ist das Thema eben politisch – und wird auch entsprechend angegangen. Indem man einen Integrationsprozess, der noch zwei Generationen dauern dürfte, schlicht wegdenkt, weil man doch so viel guten Willen einzubringen vermag, löst man aber keinen einzigen Knoten. Wulff hat zwar in der Folge betont, dass von allen Bürgern die Respektierung des Rechts und dessen Durchsetzung gefordert werde – und dergleichen mehr. Nur: Hat man sich mal auf so dünnes Eis begeben, wird jede weitere Erklärung zum Eiertanz. Und in diesem Fall durchaus auch zur Beleidigung jener Migranten mit islamischem Hintergrund, die mit dem hiesigen Wertesystem nicht die kleinsten Schwierigkeiten haben. Auch sie müssten dies nicht noch extra betonen müssen, wie ich es auch nicht muss. Und genau diese aktiv in der Gesellschaft mitmachenden Muslime wünschen sich alles, nur nicht die Unterschlagung bestehender Integrationsprobleme im Kreis ihrer Nationalitäten.

Warum also nicht weniger grosse Worte brauchen – und mehr Taten initiieren? Wenn eine deutsche Lehrerin über den Deutschenhass ihrer in grosser Mehrheit türkischen Schüler berichtet, dann kann man auch darüber theoretisieren und dies wunderbar erklären. Es löst aber das Problem der Lehrerin nicht, so lange keine wirklichen Haltungen eingenommen werden:

Es gibt, habe ich mir sagen lassen, in Berlin Neukölln wunderbar funktionierende Schulen, in denen deutsche Kinder als Minderheit sich sehr wohl fühlen und Multikulti in bestem Sinn funktioniert. Aber es gibt eben auch diese anderen Mikrokosmen, und gerade die eher linken politischen Lager täten sehr gut daran, der oben angesprochenen Lehrerin dabei zu helfen, diesen Kosmos für die Schüler gerade zu rücken – und ihnen Grenzen zu setzen:

Es braucht in diesen Einzelfällen keine theoretischen Erklärungen über irgendwelche Ursachen, sondern es ist die Unterstützung der Autorität gefordert, die dem einzelnen Kind (und deren Eltern) sagt:

“Deine Verhaltensweise ist inakzeptabel. Egal, in welchem Umfeld du gross geworden bist.”

Wir können nicht die mangelnde Autorität von Lehrern beklagen, und sie dann in schwierigen Abgrenzungessituationen im Regen stehen lassen. Es ist richtig, das eigene Denken und Handeln immer wieder zu hinterfragen und gegen jede Form von Rassismus vorzugehen. Wenn das für alle Bewohner meines Landes gilt, dann, nur dann, wird dieses Land inneren Frieden finden.

Auf dem Weg dahin braucht es in den Schulen Erziehung. Und in der öffentlichen Diskussion Haltung, Standpunkt und Anerkennung von Problemfeldern. Vielleicht kann man es so sagen: Die Diskussion sollte entpolitisiert und vergemeinschaftlicht werden. Die bestehenden Unsicherheiten wären so nicht mehr länger Wahl- und Stimmungsfutter für rechte Parteien. Werden Integrationsprobleme offen angesprochen, fehlt dem rechten Block die eigentliche Kernkompetenz: Er ist nämlich nur dann wirklich ein Thema für erschreckend Viele, wenn er glauben machen kann, nur er sähe das Problem wirklich.

Ja, ich wünsche mir die friedliche Integration unserer muslimischen Mitbürger. Ich möchte mehr über den Islam erfahren. Ich stelle mir ein multikulturelles Gemeinschaftsleben farbig und reich vor. Und es funktioniert an vielen Orten, aber es ist längst nicht selbstverständlich und gegeben. Wollen wir dahin kommen, dann müssen wir die Bereitschaft zur Öffnung fördern und fordern. In einem Prozess der kleinen konkreten Schritte – statt der grossen intellektuellen oder populistischen Gesten. Basisarbeit, Leute. Am besten dort, wo wir selbst leben und arbeiten. Mal als Anfang. Mehr reden über dich und mich. Statt “über die anderen”.


Quellen:
NZZ: Erregte Islamdebatte in Deutschland von Ulrich Schmid
Die Zeit: “Schweinefresser” von Jörg Lau, Print No 41/2010, Seite 4
Die Zeit: Unser Islam? von Ulrich Greiner