Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Der Bruder Schmerz und seine Tablette

∞  28 März 2011, 00:18

Mit ihr geht es. Aber geht es mir damit auch gut? Die Schmerztablette. Und die Menschen, die sie brauchen.


Ich lerne in diesen Monaten eine Menge über den Bruder Schmerz. Und ich werde über die Krankheit hinaus nicht vergessen, was es heisst, mit Schmerz als ständigem oder wiederkehrendem Begleiter leben zu müssen. Und dazu kann ich nur sagen: Hätte ich eine Diagnose, die mir einen immer neuen Umgang mit diesem Bruder ankündigen würde, so wäre da von mir noch viel, sehr viel Verarbeitung gefragt. Denn ich muss sagen: Es ist nicht leicht, mit ihm umzugehen.

Ich habe und hatte beidseits Nierensteine, die mir in verschiedenen operativen Schritten entfernt werden. Dazu gehört jeweils das Einsetzen einer sog. Harnleiterschiene, welche beim Pinkeln zu einem Harnrückstau ins Nierenbecken führen kann, weil der Harnleiter eben verengt ist. Schiene ist eigentlich das falsche Wort. Es ist ein Röhrchen, vergleichbar mit einem Stent, der, z.B. eine Blutbahn weiten soll. Genau dies ist auch hier das Endziel: Der Stent dehnt sich in diesen Tagen in mir aus, so dass danach durch den geweiteten und geschützten Harnleiter operativ in die Niere gelangt werden kann, um, den oder die Steine zerkleinern und abtransportieren zu können. Der Prozess der allmählichen Ausdehnung ist nicht spürbar, wir reden hier von minimalsten Durchmessern. Aber der Harnrückstau, der kann es in sich haben. Nun ist es auch hierbei so, dass die Medizin natürlich Gegenstrategien hat – mit entzündungshemmenden und stark schmerzstillenden Mitteln – und mit Beruhigungsgegenmitteln für den Magensaft, etc.

Und die Dinger sind richtige (Un-)Glücksbringer, und wegen diesen Beobachtungen schreibe ich eigentlich den Text hier:

Jeweils rechtzeitig eingeworfen, machen sie, da der Mensch ja in Vergleichen lebt, für mich das Pinkeln zur leichten Übung – verglichen mit dem Gefühl, wenn ich die Schmerzmittel NICHT hätte. Umgekehrt habe ich den Eindruck, dass sie mich schwermütig stimmen, und ich glaube nicht, dass dies nur mit dieser mühsamen und häufigen Pinkelprozedur zu tun hat, sondern wirklich durch die Medikamente bedingt ist. Etwas in mir sträubt sich auf jeden Fall gegen diese Chemiekeulen. Das sehe ich auch daran, dass ich zwar, habe ich den Zeitpunkt für den “Nachschub” der Schmerzmittel verpasst und werde ich auf der Toilette nachhaltig daran erinnert, so schnell wie möglich zum Tablettenschrank gehe – aber mit einem Widerwillen, obwohl mir die Tablette doch hilft. Ich bin zwar längst nicht mehr auf der maximalen Rezeptur, aber ich habe längst ein höchst ambivalentes Verhältnis zu diesem Erlöser entwickelt.

Und nun, wenn ich mir vorstelle, ich müsste, wie es vielen Menschen mit chronischen Erkrankungen – und vielen alten Menschen – beschieden ist, täglich mit Schmerzen leben, die man, wie man so schön sagt, “im Griff hat” – dann muss ich sagen: Ich weiss nicht, wie ich damit umgehen könnte. Jeder Tabletteneinwurf ist das Eingeständnis, ohne fremde Hilfe nicht sein zu wollen. Ich besänftige eine Reaktion, eine Rebellion meines Körpers. Ich betäube ihn. Und wenn ich umgekehrt sorglos lebe, mein Tagwerk mir mal leicht von der Hand geht, dann fährt mir vielleicht ganz plötzlich Bruder Schmerz durch die Glieder. Ich werde den Schmerz nicht los und die Schmerzmittel auch nicht. Ich muss also mit beiden leben. Und ich kann es nicht verhindern, dass dieser Schmerz und seine Tablette nach und nach, schleichend, ein Teil meiner Selbstidentifikation wird.

Ich beobachte an mir, dass ich mich stärker als sonst zurückziehe, meine Ruhe haben will, dass mir häufiger dunkle Gedanken durch den Kopf ziehen und mir auch ein schöner Tag schnell eher grau vorkommen kann. Es gibt da eben keine Tablette, die man mal schnell einwirft, um etwas weg zu haben. Es ist nicht dieses Grippe-Doktor-Anspruch-Syndrom, das uns nach einer Pille fragen lässt, um das Fieber endgültig los zu werden. Nein. Es ist der Gang in eine schmucklose, leise traurig deprimierend wirkende Abhängigkeit, und dann zur Sucht. Und ich bin sicher, dass es eine Herausforderung ist, dies ganz bewusst zu erkennen – und dagegen, auch gegen die Stimmungen, Strategien zu entwickeln. Ich bin aber sicher, dass dies nicht immer gelingen kann. Mal abgesehen davon, dass man auch mit Pille ja nie hundert Prozent ist von dem, wie man gerne wäre.

Natürlich habe ich keine Ahnung, wie viel an meinen persönlichen Beobachtungen chemisch erklärt werden kann, und was effektiv daran Kopfsache ist. Aber sowohl der Schmerz macht unser Bewusstsein dumpf, auch wenn er sich wie das Wasser bei Ebbe zurück zieht – die Schmerztabletten machen ja das gleiche. Also spüren wir mit dem Schmerz auch einen Teil von uns selbst nicht mehr…

In einer Woche sitze ich wahrscheinlich wieder zu Hause, die letzte OP hinter mir, nochmals mit Medikamenten, aber mit einem klar erkennbaren Ende der Krankheit vor mir. Dieses Glück haben viele Menschen nicht. Mich muss niemand bedauern, deswegen erzählte ich es auch nicht doch noch genauer. Aber es geht mir darum, dass wir Alle jenen Menschen, die ständig Medikamente nehmen müssen, zubilligen, dass allein in der dominierenden Bedeutung einer Tablette ein Problem ihres mentalen Umgangs mit sich selbst und ihrer Krankheit liegt.

Ich wünsche Ihnen einen ruhigen, gesunden und tiefen Schlaf: Die natürliche Besänftigung des Geistes von aller Mühsal der immerwährenden Reflexionen im Hirn, die unsere Gedanken ständig am Rotieren halten. Es darf auch einmal genug sein. Und ganz egal, wie gut unser Allgemeinzustand ist: Wir stellen schon alle ein Wunder der Schöpfung dar, für das unsere Organe unvorstellbare Leistungen erbringen. Ohne jede bewusste Mithilfe von uns (das ist wohl auch besser so…).

Ich wünsche niemandem Schmerzen, um das neu verinnerlicht zu bekommen.
Ihnen aber, die Sie Schmerzen haben, möchte ich sagen, dass Ihr Lächeln, wann immer Sie es finden, von ganz besonderer Ausstrahlung ist. Den Wert der Freude kennen Sie mehr als andere. Ich wünsche Ihnen die immer wieder gepflegte Fähigkeit, dies auch sehr bewusst geniessen zu können.