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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Demokratie lernen: Die Meinungshoheit anstreben

∞  8 November 2011, 20:33

Wir haben heute wieder mal ein bisschen Kassensturz gemacht. Das heisst, wir haben uns mal wieder ein Bild gemacht über unsere “Anlagen” und ein paar Kurse verglichen von Aktien, von denen wir wissen, dass sie in unserem Umfeld gehalten werden. Und das lässt mich dann wieder mal ein wenig tiefer schürfen nach der allgemeinen Befindlichkeit, wie ich sie rundum zu spüren glaube. Diese Befindlichkeit nämlich macht mir sehr viel mehr Sorgen als schwache Kurse…


Ich bin noch mit einem Spar“büchlein” aufgewachsen. Meine Eltern haben im klassischen Sinn sparsam gelebt und fleissig gewerkelt – und den gesparten Franken gespart. Was damals einem Bunkern gleich kam. So sicher war das, jawoll.

Ich weiss nicht, ab welchem Sparpegel man vom Sparer zum Anleger wird. In absoluten Zahlen ist das schwierig zu sagen, aber ich kann es wohl umschreiben: Wenn in Ihrer Vorstellung das Angesparte nicht länger einfach mal einen Zustupf zur Rente bedeuten soll, sondern dieses Gesparte für sie arbeiten soll – spätestens dann sind Sie Anleger. Der Zins wird zur Rendite, der Sparbatzen zu Anlagekapital – und Ihr Kundenberater womöglich zum Broker.

In meinem Studentenumfeld hat man zwar schon von Aktien als dem Nonplusultra gesprochen, als es noch hiess, dass nur 5% der Bevölkerung welche besässen, aber mittlerweile haben wohl viele, sehr viele auch ein wenig was vom Kuchen haben wollen. Das ist ja auch mehr als verständlich, denn jene Profis, die quasi anwartschaftlich unser Rentenkapital hüten und bewirtschaften sollen, die Pensionskassenverwalter also, tun längst das gleiche. Der Tag, an dem Pensionskassen der mehr oder weniger unlimitierte Ankauf von Aktien gesetzlich erlaubt wurde, hat gewissermassen einen Dammbruch in den Köpfen herbei geführt.

Und so glaube ich, dass heute rundum in sehr vielen Köpfen leiser Ärger bis tiefer Gram hockt angesichts schmelzender eigener Reserven. Schlechte Kurse, schwache Fremdwährungen, tiefe Zinsen – und Löhne, welche deutlich hinter der wirtschaftlichen Entwicklung der Betriebe zurück bleiben und wenig mehr als dieTeuerungsraten ausgleichen – wenn überhaupt. Und gleichzeitig ist immer mehr Geld im Umlauf. Es wird ständig zu tiefsten Refinanzierungssätzen zusätzlich gedruckt und der weltweite Handel jongliert mit Zahlen, welche wir uns gar nicht mehr vorstellen können. Seit wann reden wir übrigens von Hedgefonds? Das sind Organisationen mit riesigem Anlagevolumen – ohne dass sie auch nur im Ansatz so reguliert würden, wie wir es mit der verschwiegendsten Privatbank gehandhabt wissen möchten.

Wir ahnen also: Es gibt immer mehr Mittelständische, welche Substanz einbüssen, und an der Spitze so was wie ein sich bildendes Privatwirtschaftsoligarchat, das gerade gross genug ist, dass sich jeder Halbakademiker und qualifizierte Arbeitsnehmer vorstellen kann, theoretisch auch mal dazu zu gehören. Das scheint dafür auszureichen, dass die Politik ohne den Widerstand der Mehrheit einen Kurs verfolgt, der uns allen dienen soll: Tiefe Steuern kurbeln die Wirtschaft an und dann haben wir alle wenigstens einen Job. Oder so ähnlich.

Eine beachtliche Zahl der grössten US-Konzerne soll überhaupt keine Steuern bezahlen, habe ich kürzlich gelesen. Wer will denn eigentlich, mit Verlaub, die Bilanz einer weltweiten Holdinggesellschaft noch richtig lesen können –und sich wirklich fundiert darüber einig werden, was wo wem in welcher Höhe für welches Ergebnis an Steuern bezahlt werden soll?

Uns rinnen also die Ersparnisse durch die Finger – während man uns vorrechnet, dass die Renten längst nicht mehr sicher wären. Das allerdings kann auch nur dann sein, wenn sich alle einig sind, dass der politische Wille zum sozialen Frieden für die Altersgeneration nicht grösser sein kann als es der Wirtschaftsmarkt tolerieren will. Das muss nicht so sein. Und es ist nicht nur soziale Romantik, wenn die Occupy-Bewegung Zeltlager vor Bankenplätzen betreibt. Dahinter steckt ein Bauchgefühl, das uns allen nicht fremd ist: Es ist was faul im Staat.
Und dieser Staat sind wir.

Früher hat man linken Politikern gern vorgehalten, sie würden von Wirtschaft nichts verstehen. Heute ist dieses Argument irgendwie saftlos geworden… Ich lese und höre immer mehr Statements von linken Politikern in Deutschland, und ich lese immer mehr entsprechend positionierte Zeitungsartikel – ohne dass ich den Kopf schütteln würde. Nein, ich glaube allmählich, die Schlipsfrakton mit der bewamsten weiblichen Gallionsfigur an der Spitze braucht dringend Hilfe in der Frage, wie man ein leckes Boot auf offener See am Absaufen hindert. Nicht das Beiboot, das Schiff selbst.

Wann wird es politisch unausweichlich, sich von gescheiterten Ideen zu verabschieden und ihnen nicht weitere zig Milliarden hinterher zu werfen? Rechtzeitig für unsere Demokratien – oder rechtzeitig für diese gewisse Oligarchie, von der schon die Rede war?

Wenn Medien die Frage der Vor und Nachteile einer Demokratie in diesen Monaten diskutieren, dann kommen sie teilweise zu alarmierenden Schlüssen. Sie diagnostizieren dann gerne, dass es, angesichts der drängenden Zeit, mit weniger Demokratie gehen müsse, nicht mit mehr. Das ist äusserst gefährlich und bringt uns in einer Phase, in der die Staaten schwach sind, hohe innenpolitische Gefahren. Und gerade Deutschland kann nicht unbedingt behaupten, dass man zur Zeit eine Regierung hätte, welche die Prinzipien demokratischer Rechtsstaatlichkeit besonders hoch veranschlagen würde.

Glückliche Schweiz? Ja, ich finde schon. Wir sind schwerfällig, unser System ist schwerfällig. Aber Entscheidungen, die bei uns getroffen werden, haben entweder direkt die Kraft, demokratisch legitimiert zu sein, oder aber sie stehen unter dem Eindruck, dass sich anhand der vielen direktdemokratischen Korrekturmöglichkeiten fehlender Rückhalt im Volk in einem Widerstand etablieren wird, der die Umsetzung von Massnahmen unmöglich macht.

Es muss immer wieder darum gekämpft werden, dass alle Elemente des Staates ihre Aufgabe wahr nehmen: Die Medien müssen beobachten und informieren, werten und kritisieren, die Richter die Verfassungsmässigkeit verteidigen, die Politiker Mehrheiten finden – und die Bürger die Energie aufbringen – und die Identifikation, sich informieren zu wollen und entscheiden zu können.

Da ist es oft leicht, bei missliebigen Entscheidungen des Volkes, dieses als “dumm” zu bezeichnen. Aber: Das Volk hat in einer wirklichen Demokratie immer recht. In einer solchen Grundordnung eines Staates mit funktionierenden informellen Meiden schafft es der demorkatische Prozess der Politik, den Volkswillen zu erkennen und diesen minderheitsverträglich umzusetzen. Es braucht eine Kultur der Sachpolitik, in der gar nicht erst der Glaube aufkommen kann, es gelänge einer einzelnen Strömung, die Mehrheit zu vereinnahmen.

Hat ein Land keine direktdemokratische Tradition, so muss dieses Bewusstsein auf allen Stufen gelernt werden. Politische Sackgassen wie Stuttgart21 sind hier am Ende nicht in erster Linie teure und Zeit fressende Sackgassen, sondern Schulbeispiele mit Lerngelegenheit für alle.

Liebe Freunde in Deutschland: Es ist, ich kann es Euch versichern, ein gutes Gefühl, den Politkern als Bürger in der Notwendigkeit der Genehmigung einer Sachentscheidung nahe zu sein – direkt vor ihnen. Sehr viel näher auf jeden Fall, als dies in so mancher rhetorischen Debatte zuvor den Anschein machen mag.