Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Das Tagebuch, das unvollendete...

∞  1 April 2010, 21:26

Schreiben Sie auch Tagebuch? Oder haben Sie es einmal getan? Oder zumindest versucht? Ich gehöre zum Heer jener, welche als Schüler und dann als Student sicher ein Dutzend Anläufe genommen haben – und jeden Versuch mit der Entsorgung im runden Ordner beendet haben. Ich machte mir noch nicht einmal die Mühe, die Kladden, Hefte oder Ringbücher zu schreddern, zu verbrennen oder zu häckseln. Diesen Schrott wollte garantiert niemand lesen, befand ich. Und wirklich wahnsinnig spannend war mein Leben auch nicht gerade, war ich überzeugt. Es waren einfach noch zu wenige Jahre da und zu wenig Ruhe, um mit dem Blick auf die eigene Wegstrecke ganz erstaunt festzustellen, dass da sehr wohl sehr viel los war. Dass jedes Leben Stoff für einen Roman hergibt, ist eine Tatsache, die sich beweisen ließe. Aber Tagebuch? Auch viele Autoren sind sich ganz und gar nicht sicher, für was das gut sein soll.

Tagebuch – das erhebt so einen Anspruch, macht die Lust viel zu schnell zur Pflicht: Schreib (jeden) Tag ins Buch. So begann Durs Grünbein einst ein neues Tagebuch damit, dass er ihm einen neuen Namen gab, einen neuen Titel: Verstreutes Aufschreiben. Wie man es auch immer nennt, für ihn ist das Tagebuch
weiter nichts als der Versuch, Schritt zu halten mit dem immer vorauseilenden Vergessen.
Das kann ja nicht gelingen, ist aber Ausdruck der Beschäftigung mit der eigenen Zeit, dem eigenen Vergessen – und bleibt dabei
eine tägliche Übung in Vergeblichkeit.

Schreibt man Tagebuch als Hauptdarsteller? Aber natürlich. Und wie stellt man sich also dar? Natürlich tut man das. Immer. Denn irgendwie könnte es ja doch sein, soll es vielleicht sogar einmal, dass “das” jemand liest.Also ist immer auch Verstellung da. Und wie schreibt man also über sich? Welche Filter hat man eingebaut? Vielleicht, denke ich, kann man beim Tagebuch das hier lernen und entsprechenden Mut entwickeln: Grünbein sagt:
Die Schwächen [des Menschen, Th.] sind, mit einer gewissen Leidenschaft und Sympathie betrachtet, sein wahrer Reichtum. Sie sind das Kapital des Künstlers.

Vielleicht kann man mit einem Tagebuch sich selbst ein wenig vergegenwärtigen, dass man eine eigene Lebensgeschichte hat. Die es nur einmal gibt.
Deshalb ist jedes Menschenleben nur auf seine eigene, unwiderbringliche Weise erzählbar. Mit dieser Überlegung geht Aurora, die Morgenröte, über den Sätzen auf.

Ich überlege, ob ich nun neben dem Blog ein wirkliches neues Tagebuch eröffnen soll. Und dann, dass das gleiche Leben wohl sehr verschieden erzählt werden kann, aber dass mir nur die Variante meiner eigenen Sicht darauf offen bleibt. Es ist meine Wirklichkeit, oder meine Verklärung. Und so oder so dokumentiere ich dabei vor allem, dass ich Teil dieses Lebens bleibe – und vielleicht auch, warum sich dieses Leben so lebt, wie ich es lebe.

Wenn Sie Tagebücher vernichtet haben – wie haben Sie es getan? Und geht es Ihnen dabei wie Karen Duve, welche das bereut, weil sie ihre Tagebücher gern noch einmal lesen möchte – und sie dann erst verbrennen.

Und was soll denn das nächste Tagebuch sein? Eine akribische Dokumentation der Tagesabläufe? Da ich dafür weder den Nerv noch die Zeit noch das Interesse habe, geht es mir wohl eher wie Peter Kurzeck:
Wenn es dir jetzt gelingen würde, einen Winter-Sonntagnachmittag-Moment, als du zwölf warst, aufzuschreiben.
Glücklich kann man da sein, wenn man das Tagebuch zur Hand hat, weil es dann wirklich dem Schreiben dient, aber quälen kann man sich dabei oder verlieren, wenn man wie Peter Kurzeck befürchten würde:
Wenn ich Tagebuch schriebe, würde ich den Rest meines Lebens nichts anderes mehr machen können. Ich könne am Ende gar nicht mehr aus dem Haus gehen, weil ja immer mehr Stoff dazukommt.

Ja. Das Leben ist nie zu Ende erzählt. Vielleicht kann ich mein Leben tatsächlich nur auf eine Art erzählen. Aber ich kann es in den unterschiedlichsten Weisen versuchen. Ich kann mich dabei verrennen. Und keinen Augenblick festhalten. Aber vielleicht kann ich mich an einen Moment erinnern, an einem Sonntagnachmittag im Winter, als ich zwölf war. Und sehen, was ich sah, als ich aus dem Fenster blickte. Oder von draussen in die Küche, wo Mutter den Kuchen auf Teller verteilte. Oder…

Wenn sie denn geschrieben sind, Tagebücher, unfertig, gescheiterte Versuche vielleicht – so sind sie doch da. Sie liegen als Dokumente weniger Monate neben einander, und dann sagen wir vielleicht wie Andreas Maier:
Das alles bist ja du!
So wie die Bücher neben einander liegen, kann das tatsächlich verwirren: WER bin ich denn nun wirklich? Die Beschreibung seiner selbst und seiner Beobachtungen ist nie eine linear fortlaufende Übung. Ich bleibe, was ich lerne und was ich vergesse. Wie wenn Wahrheiten neben einander stehen würden, können Lebensabschnitte erzählt werden, wahrgenommen, überblendet, ausgeklammert in Gefühle, Ereignisse, Gedanken. Und die Summe des Erzählens beängstigt Andreas Maier:
weil alles das eigentlich unter überhaupt keinen Hut zusammenzubringen ist. Und so laufe ich durch die Welt.

Er tut es ganz wahrscheinlich mit weniger Filtern als andere Menschen. Obwohl oder weil er Tagebuch schreibt? Und weil er denkt, angesichts der Chance, sich selbst näher kommen, könnten einem alle Meinungen Dritter eh gestohlen bleiben.

Brigitte Kronauer macht sich Notizen. Laufend. Zu aktuellen Schreibprojekten. Und sonst?
Die innere Wortlosigkeit ist eine notwendige, krafterzeugende Pause beim Schreiben. Sie gelingt am besten beim Spazierengehen, Zettel und Stift natürlich immer dabei.

Ein Tagebuch wäre da zu schwer. Bildlich wie metaphysisch: Ein Ungeheuer, das nach Ausdruck dessen verlangt, was ganz offensichtlich noch keinen Ausdruck finden kann. Oder soll.

Wie flockig wir dieses Thema doch besprechen können, heute, mag das Tagebuch, welches das unsere ist, auch so schwer wiegen, weil es wirklich Schweres enthält: Martin Mosebach macht darauf aufmerksam, dass in den alten Heiligsprechungsprozessen der römischen Kirche gültig war:
Es galt als schwarzer Fleck einer Biografie, wenn sich herausstellte, der Betreffende habe ein Tagebuch geführt: Die Selbstbespiegelung und das lustvolle Verweilen in der eigenen Vergangenheit galten als moralisch fragwürdig.
Man mag jetzt spöttisch einwenden, die Herren Selig- und Heiligsprecher wären wohl mehr von der Angst getrieben gewesen, vielleicht eine Seele zu ehren, welche unbekannte Seiten offenbaren könnte, eines Tages. Denn, wo ein Tagebuch gefunden wird – wer sagt denn, dass es da nicht noch andere geben kann?

Und doch lohnt es sich, den persönlichen Umgang mit seinem eigenen Erlebten mal zu betrachten. Keiner zu bescheiden, um nicht immer mal wieder in die Falle zu tappen. Und doch – was bleibt uns denn mehr und Wichtigeres im Leben, als der Umgang mit uns selbst – und die tatsächliche Abkehr von der Nabelschau wirklich zu schaffen. Irgendwann.

Hanns-Josef Orthell versucht eine Art Objektivierung. Ich denke, also bin ich, oder wie bin ich denn heute durch mein Denken geworden? Wo bin ich hin gekommen?
Anders als in klassischen Tagebüchern , in denen die Selbstaussprache des Schreibenden im Vordergrund steht, geht es in meinen Notizsystemen aber nicht um Protokolle der täglichen Emotionen, sondern um die zumindest bruchstückhafte Skizzierung des Meers an Gedanken und Ideen, die jeden Tag grundieren und formen.

Peter Stamm schliesslich erschöpft das Thema wohl sehr. Und darum soll er auch hier die Schlussworte sprechen dürfen, wie auch im Zeit-Literaturmagazin No 12 / März 2010, aus dem die hier zusammen gefassten und gedanklich begleiteten Zitate stammen: Er zitiert aus seinem Tagebuch als Achtjähriger (letzter Eintrag):
19. Juli. u.s.w.
Peter Stamm zitiert aber nicht nur den Achtjährigen Stamm, er erinnert auch an Johanna Spyri, die meinte, nein, sie würde keine Autobiographie schreiben, was sie erlebt habe, sei nicht interessant, und was in ihrem Inneren vorgehe, gehe niemanden etwas an.
Auch so können Romanfiguren entstehen. Und Peter Stamm schreibt ja bekanntlich auch. Auch Romane. Tagebuch eher nicht. Denn dabei wird ihm bewusst:
Schreiben macht so schrecklich müde.
Und, zu allerletzt:
Wie dumm man ist, merkt man immer erst, wenn man anfängt zu schreiben.

Was man hier so lesen kann, lässt vermuten, dass manchem Roman vielleicht ein gescheitertes Tagebuch voraus gegangen ist – oder dessen Entstehung begleitet hat. Denn was in Tagebuchfetzen unvollendet, bruchstückhaft oder nur ermüdend erschien, hat sich in geschaffenen Figuren und konzipierten Handlungen zu Thematas und Geschichten verdichtet. Und wieviel Tageuch da drin stecken mag, weiss niemand zu sagen. Auch Leser schreiben Tagebuch. Vielleicht lautet da ein Eintrag:
Noch ein bisschen Peter Stamm gelesen. Nun bin ich schrecklich müde.

Kein Problem. Ganz bestimmt auch für Peter Stamm nicht. Literarische Texte stehen für sich selbst, meint er.
Ob gelesen, verstanden oder beiseite gelegt. Morgen ist für sie noch immer ein guter Tag. Tagebücher haben ihre Zeit. Und oft ein Ende. Dass sie trotzdem immer wieder entstehen, bedeutet nur: Schreiben um des Schreibens willen hat zwischen Kladden genau so persönlich Platz wie jeder gute Gedanke zum vergangenen Tag. Und sei es nur, um Schlaf zu finden, wenn das gute Buch fehlt – oder noch nicht geschrieben ist.
Ich blogge dann mal weiter. Auch wieder kürzer…



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Zitate und Autoren aus dem Literaturmagazin der Zeit vom März 2010, Nr. 12, [Printausgabe] zur Leipziger Buchmesse.
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