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Das Redaktionsschwein, die arme Sau

∞  5 Januar 2013, 13:29

istockphoto.com/anthonysp: “with a ham”




Dies ist die Geschichte von einem armen Schwein, das leider am Leben blieb. Denn das kann für ein Nutztier verheerende Folgen haben. Und es ist die Geschichte eines journalistischen Projekts, für das die Macher ganz bestimmt ein anderes Ende vorgesehen hatten.





Die Redaktion des Weser-Kuriers beschliesst nach einem Dioxin-Skandal mit der Dokumentation eines typischen Schweinelebens den Hintergrund heutiger Tierhaltung samt Futtermittelindustrie zur Befriedigung unseres Fleischkonsums zu beleuchten. Die Redaktion kauft also in einem repräsentativen Betrieb ein namenloses, neu geborenes Mastschwein, um vierzehntäglich so ein typisches Schweineleben zu dokumentieren – von der Züchtung über die Haltung bis zur Schlachtung. Alles geht seinen geordneten Gang – bis der Tag der Schlachtung näher rückt. Jetzt machen Tierschützer aus den verschiedensten Ecken des Spektrums mobil und agieren gegen Journalisten, Bauernfamilie und Schlachter mit den heute üblichen Mitteln der Militanz: Facebookgruppen werden gegründet, die Redaktion mit E-Mails überflutet, die “Mörder” bedroht.

Die Redaktion gibt dem Druck nach, wie es heisst auch gemäss polizeilichem Rat, und lässt die arme Sau leben, und der Tierschutzbund-Präsident vermeldet die gute Tat, dass das Redaktionsschwein, das ein Eber ist, auf einen Gnadenhof in Schleswig-Holstein verlegt wurde. Da wird das Tier, das nun auch einen Namen hat und Tibu gerufen wird, älter und schwerer, als es je im Nutztier-Design der Zucht vorgesehen war: Das Tier wiegt an die 200 kg, die Gelenke machen nicht mit, es bekommt eine Gras-Diät verordnet und Schmerzmittel, wenn es zu sehr humpelt, und eine Tierpflegerin schmiert seine Haut regelmässig mit Sonnencreme mit Schutzfaktor nicht unter 20 ein, weil seine Haut die Sonneneinstrahlung nicht verträgt.

So hat der Tierschutz ein Schweineleben gerettet und gleichzeitig ein einzelnes Siechtum begründet, sich am einzelnen Individuum per Jöh-Faktor den Aufmerksamkeitshasch abgeholt und die Gewissensberuhigung angeboten. Erreicht wurde darüber hinaus gar nichts. Die Redaktion hat das Interesse an der Geschichte längst verloren und fragt sich wohl auch, was eigentlich mit den Menschen los ist, die nicht sehen können, was doch ganz allgemein zu sehen ist: Wir fressen viel zu viel Fleisch und das ist auch noch so billig. Der Begriff “Nutztier” bedeutet nichts anderes, als dass wir genau diesem Wunsch entsprechend produzieren lassen und die Tiere als Fleischproduzenten geplant und konstruiert werden. Artgerechte Nutztierhaltung bedeutet dabei nur, dass die Tiere für den geplanten Aufenthalt auf Erden zwischen Besamung und Schlachtung trotz idealer Nahrungsproduktion nicht vor Schmerzen quieken, blöken, muhen oder gackern. Wenn Sie das übertrieben finden, dann fragen Sie sich mal, ob die dünnen Beine von Masthühnern im Entferntesten darauf ausgerichtet sind, diesen Tieren mit ihren gewaltigen Brustkörben Auslauf zu gewähren, oder vergleichen Sie Euter von Kühen vor zwanzig Jahren (weiter zurück zu gehen machte noch mehr depressiv) mit jenen von heute – und dann erübrigen sich viele Fragen.

Unglaublich mutet es an, wenn wir die Chinesen dafür verachten, dass sie Hunde essen, ja, wenn wir überhaupt jemanden dafür verachten, dass er irgend ein Tier frisst, wenn wir selbst danach funktionieren, dass unser Beschützerinstinkt dann einsetzt, wenn ein Tier einen Pelz hat oder ein Gesicht bekommt, so dass wir ihm einen Namen geben.
Wir verstehen den Bauern nicht, der seine Kühe mit Namen anspricht und sie dann doch der Schlachtung überführen kann, aber wir nehmen das Fleisch in Folie aus dem Tiefkühlregal, ohne dass uns auffallen oder wir uns irgend einen Gedanken darüber machen würden, wie es möglich ist, dass wir so viele Koteletts, Steaks, Hühnerbrüste und -Schenkel “konsumieren”, ohne dass daneben auch “minderes” Fleisch im Regal liegt? Wo das wohl alles hinwandert?

Dafür hat das Schwein im Mastbetrieb eine Rippe mehr als von Natur aus gedacht, weil wir, eben, Koteletts so sehr mögen, und das nennt sich dann Innovation. Und diesem Menschen soll man den vernünftigen Umgang mit Gencodes irgendwelchen Lebens zutrauen?

Tibu ist wirklich eine arme Sau. In einer solch absurden Welt menschlicher Form von Tierliebe ausgesetzt zu werden, ist echt eine Zumutung. Seine Geister dürften allerdings dereinst zurück schlagen, und das ahnen wir wohl alle.

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media-Top-Story: Das vergessene Redaktionsschwein
via mycomfor und da Kommentar