Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Das letzte Stück ist schwer

∞  18 Oktober 2011, 19:31

Wann beginnt sie, die schleichende Fahrt in die Einsamkeit? Ich bin in einem Alter, in dem unsere Eltern alt werden. Nicht älter. Sondern wirklich alt. An keinem anderen Menschen last sich so gut beobachten und erleben, wie hart die letzte Lebensschule sein kann, wie am Vater oder der Mutter:


Die Tätigkeiten und Aufenthalte, die einem immer lieb und teuer waren: Plötzlich wollen sie nicht mehr von der Hand gehen – und auch das Sitzen im Lehnstuhl vertieft nur noch die bittere Erkenntnis, diesen Platz nicht mehr frei wählen zu können, nach der Inspiration eines Tuns, einer Aktivität. Der Sessel ist nicht länger das, was lockt, ein Platz zum Ausruhen. Er ist am Ende alles, was bleibt, und das Leben findet nur noch im Fernsehen statt.

Oder: Wir Jüngeren können uns ärgern, wenn die Eltern nicht vernünftig sein wollen und es freiwillig ruhiger angehen. Wir rechnen ihnen vor, was sie schon wieder vergessen haben und drängen sie, bei Gebresten dies und jenes zu versuchen oder doch wenigstens mal zum Arzt zu gehen. Wenn sie aber dann so weit sind, dass sie bemerken, dass die Jüngeren recht haben – überkommt diesen Rest Leben oft eine schwere Altersdepression.

Dass dieses Altwerden auch von Schermzen begleitet ist, bei fast allen – macht es genau so noch schwerer wie die zunehmende Einsamkeit. Man ist mit seinem Vergessen mit jenen allein, zunehmend, die ebenfalls keine Erinnerung mehr an gestern haben – und deren Blick in frühere Zeiten sich an der Unbeholfenheit bis Unmöglichkeit stösst, sich in der modernen Welt zurecht zu finden. Viele jener Menschen, die in unserem Rücken in diesen Jahren in diesem Sinn alt werden und vergessen gehen, haben Internet und e-mail nicht mehr kennen gelernt oder angenommen. Man mag meinen, dies wäre doch eine Erleichterung in dieser Situation, weil es Kommunikation mit minimalem Aufwand im eigentlichen Sinn “mobil” möglich macht. Ja. Vielleicht. Wahrscheinlich haben wir es einmal leichter. Aber das Internet ersetzt keine Begegnungen, es könnte sie höchstens vorbereiten. Derweil muss die heutige alte Generation den gleichen Kampf fechten wie die Generationen zuvor und alle zukünftigen. Am Ende wird man auf sich selbst zurück geworfen. Dass auch die Sterberate unter den noch vorhandenen Kontakten genau dies noch so brutal bestätigt – muss es sein? Muss das alles sein? Warum altern die einen in so viel besserer Stimmung und Kondition als andere? Kriegt man die Rechnung der Arbeit an sich selbst erst ganz am Schluss vorgelegt?

Wenn ich verschiedene Lebensabende mit einander vergleiche: Was gäbe mir das Recht, das eine als verdienter als das andere zu betrachten? Hat es sich jemand gut eingerichtet, so ist ihm das zu gönnen. Aber ob er behält, was ihm Sicherheit vermitteln soll, gesundheitlich wie finanziell – es gibt keine Garantie.

Wir hören immer wieder, wahrscheinlich auch uns selber: Im Alter “den Verstand verlieren”, dement werden, das wäre furchtbar. Nun, im Umkehrschluss bedeutet das, dass wir unsere wachen Fragen in die dämmriger werdenden Hirnwindungen mitnehmen. Wenn unser Leben freudloser wird, grauer, dämmriger – so ist das mit wachem Verstand wohl nicht einfacher zu ertragen. Mit Demut, Herz und dem Zutrauen, dass ich den mir bestimmten Weg gehen kann – ist es wohl leichter zu ertragen. Und spätestens dann ist kindlicher Glaube nichts mehr, für das man verspottet werden wird.