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Das erste Sterbehilfegesetz der Schweiz

∞  20 Juni 2012, 16:33

Die Waadt bekommt als erster Kanton der Schweiz ein Sterbehilfegesetz.

istockphoto.com/koun

Ganz unabhängig vom Grad der Liberalität oder umgekehrt der Restriktion beim Thema Sterbehilfe, ist es eine Eigenart der Politik, dem Phänomen zwar mit politischer Dikussion zu begegnen, es aber wenn immer möglich nicht mit konkreten Gesetzen zu regeln. So lange die Fälle einer aktiven oder passiven Sterbebegleitung irgendwie unter die Worthülsen gewisser Normen des Strafgesetzbuches subsumiert werden müssen, ist der Zustand zwar für alle Beteiligten höchst unbefriedigend, für die Politik aber weit weniger heikel: Die Emotionen und Wertvorstellungen ganz grundsätzlicher Art belasten Wahlchancen, bzw. machen diese zumindest vollständig unkalkulierbar.

Nun haben wir in der Schweiz zwei sehr starke Sterbehilforganisationen, Exit und Dignitas, die beide im Kanton Zürich angesiedelt sind und die im ständigen juristischen und gesellschaftlichen Diskurs mit Behörden und Bevölkerung ganz bestimmt ein Verdienst für sich in Anspruch nehmen können: Das Thema wird in der Schweiz nicht tabuisiert, und eine komplett restriktive Haltung gegen den Willen von Sterbewilligen kann sich die Politik im Grunde nicht leisten.

Konkret politisch entschieden werden mussten bisher gleichwohl nur Initiativen und Vorstösse, die sich für rigide Korrekturen der heraus gearbeiteten Praxis stark machten – sie waren chancenlos; nicht mal der sog. Sterbetourismus in den Kanton Zürich war der Bevölkerung suspekt genug, um Entscheidungsfreiheit für direkt Betroffene pauschal einzuschränken. Umgekehrt hat die etabliertere und weniger als Dignitas von ihren Gründerpersonen dominierte Organisation Exit auch keinen politischen Vorstoss für eine Gesetzesregelung unternommen. Bisher. Nun ist das anders.

Im Kanton Waadt hat die Bevölkerung zwar eine Initiative von Exit abgelehnt, den Gegenvorschlag der Regierung aber mit über 60% Ja-Stimmen angenommen: Die Regierung hat nicht nur gemauert, sondern im Vorstoss von Exit das breite Interesse der Bevölkerung nach einer Regelung erkannt. Sie sieht denn auch für das Gesetz eine Gültigkeit nicht nur in Alten- und Pflegeheime vor, sondern nennt ausdrücklich auch Spitäler. Sie überlässt die Entscheidung aber nicht allein dem Patienten, sondern verlangt, dass pflegende Personen und Ärzte die Unheilbarkeit der Krankheit und die Urteilsfähigkeit des Patienten bescheinigen – und legt fest, dass diese Personen beim begleiteten Suizid anschliessend nicht zugegen sein dürfen:

Niemand meint, dass mit Regularien jeder Fall befriedigend gelöst werden kann. Niemand “weiss” in letzter Konsequenz, was hier “rechtens” ist. Leben und Sterben ist in letzter Konsequenz eine höchst private Angelegenheit, und entsprechend hoch muss die letzte Entscheidungsgewalt des direkt Betroffenen eingesetzt werden. Dass in diesem Prozess der Patient über die Möglichkeiten der Palliativmedizin aufgeklärt werden muss, ist gewiss in Ordnung. Wie bei jedem anderen Entscheid braucht es für das Urteil und die Ermittlung meines wirlichen Willens die Kenntnis über alle Optionen – möglichst ohne Verwischung und Verklärung der Fakten. Wer möchte bei diesem Thema bestreiten, dass die Aufgabe, solches möglich zu machen, eine immens Schwierige ist – und immer bleiben wird?

Ich wünsche niemandem von uns diesen Punkt an einem Scheideweg, an dem mit den eigenen Zweifeln und der Trauer der Verlust befürchtenden Angehörigen endlos gerungen werden muss – und dennoch ist genau dies nicht zu verhindern: Wer keine Dogmen akzeptiert, wird sie nicht an diesem Punkt plötzlich als tröstend empfinden. Die Herausforderung, Willen zuzulassen, Information zu geben, Pflege zu leisten, aber auch zurückstehen zu können ist nun eine gesetzlich vorgesehene Betreuungsleistung im Kanton Waadt geworden.

Das ist bemerkenswert – und sicher ein gutes Beispiel dafür, wie viel leichter es für die Politik ist, am Puls der Menschen zu regieren, wenn sie sich immer auch dank der Instrumente der direkten Demokratie mit konkreten Ansinnen aus der Bevölkerung befassen muss.