Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Das Elend der Welt kommt manchmal später

∞  19 März 2011, 19:22

Japan ist bei eigenen gesundheitlichen Problemen auch mal weit weg. Und das ist gut so.


Die Welt reiht Hiobsbotschaft an Schreckensnachricht, so dass wir darob ganz konfus werden und doch Tag für Tag gebannt auf den Bildschirm starren oder nach Nachrichten lauschen oder lesen, was immer wir an Informationen bekommen können.

Wenn man gleichzeitig krank ist, verschieben sich die Gewichtungen ein wenig. Ich drücke es mal drastisch aus:

Wenn meine Sorge ist, dass ich ohne Katheter wieder pinkeln kann, dann ist mir in diesem Moment egal, ob der Reaktor in Fukushima strahlt oder nicht.

Herzlos? Vielleicht. Aber ich kann Ihnen sagen: Es tut auch richtig gut. Und unter dem Strich aller Bestürzung liegt darin wahrscheinlich die einzige Wahrheit, die mir selbst und anderen überhaupt nützen kann:
Ich kann mich noch so über den Lauf der Welt wundern, über die Mechanismen, die ihn bestimmen. Real muss sich mein Nachdenken darüber erst in meinem eigenen Verhalten, in meiner Haltung niederschlagen. Ich kann mir bewusst machen, nach welchen Regeln ich selbst funktioniere, welchen Automatismen ich in meinen Reaktionen ausgesetzt bin – und wo diese natürlich sind und wo nicht. Und es IST nun mal natürlich, erst einmal auf die eigene Gesundheit fokussiert zu sein. Es ist nötig, dem Körper die Ruhe und die Zeit zu geben, die er benötigt. Und in der Hilfe, die man dabei von anderen Menschen erfährt, liegt ein Trost, der dann wieder bis nach Japan reicht:

Liebe Leser

Was in Japan geschah und geschieht, ist schrecklich und hat Auswirkungen auf uns Alle. Was wir mit unseren Lebensansprüchen dazu beitragen, dass solche Katastrophen geschehen können, dürfte nicht unerheblich sein. Gleichzeitig können aus Japan tausende von Geschichten weiter erzählt werden, die von unermesslicher Menschlichkeit berichten.

Der Mensch will leben und menschlich sein. Und er bleibt dabei so lange ein soziales Wesen, wie er auch nur einen Faden Kraft für andere übrig hat. Es GIBT das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein, und es lässt sich oft dann erfahren, wenn man denkt, nun wirklich ganz auf sich allein gestellt zu sein.

Manche von uns dürften in diesen Tagen bei ihren Alltagstätigkeiten manchmal denken, wie wenig Sinn das eigentlich macht? Doch Pflegende, Angehörige sozialer Berufe, oft schlecht entlöhnt und ausgepowert zwischen Patientenanspruch und Kostenkontrolle, haben in diesen Tagen gerade die Arbeit, an der sie sich halten können: Sie kennen die Not, die nahe ist, sie sehen sie und sie können da wirken, wo sie stehen. Wie jeden Tag.

Ich denke an den Herrn auf der Abteilung im Spital, der praktisch immer unterwegs war, mehr als nur leicht verwirrt, immer mit seinem Kulturbeutel unter dem Arm, auf dem Weg zur Toilette statt zum Duschen, oder dann wieder mal auf einem Klo verschollen, weit weg von seinem Patientenzimmer. Sie haben ihn immer wieder gefunden, die Schwestern, und nie fiel ein lautes oder gar böses Wort. Dem Mann wurde Ehre bezeugt, und nichts erschien damit an ihm lächerlich, wenn er mit wehendem Flügelhemd und knochigen Waden in offenen Schlappen an mir vorbei schlurfte und mich dabei grüsste, als würden wir uns auf der Bahnhofstrasse begegnen.

Japan leidet weiter. Der Mann wird vielleicht bald sterben. Aber unser nächster Moment ist dort, wo wir gerade sind, immer das Wichtigste in unserem Leben. Wir können ihn mit keinem fernen Schicksal teilen, wenn wir nicht die eigene Bodenhaftung dafür besitzen.