Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Das betende oder flehende Mädchen

∞  15 Juli 2013, 20:28

Seit Jahr und Tag ist es über Deinem Bett gehangen, und wenn ich es hätte beschreiben müssen, dann hätte ich von einem kleinen Mädchen erzählt, das im Nachthemd in seinem dunklen Zimmer kniet, den Kopf zum schwachen Licht vor sich in der Höhe erhoben und die Hände zum Gebet gefaltet.

Doch wo ich Zuversicht vermutete, hat Dein Vater etwas ganz anderes auf die Leinwand gebracht: Erst jetzt, von der Wand genommen und in meinen Erinnerungen gelandet, sehe ich mir das Bild erstmals ganz genau an, und ich bin dabei erschrocken: Dem Kind ist die Angst ins Gesicht geschrieben, und es kniet wohl eher im Keller als in einem vertrauten Zimmer. Und die gefalteten Hände verhelfen auch nicht zu mehr Wirkung für irgend ein Gebet, das Zuversicht schenken würde. Das Bild erzählt nur von Drohung und Angst.

Was hast Du wohl in ihm gesehen? Was sah Dein Vater in ihm, als er es malte? War Angst in Form von Gottesfurcht das höchste der religiösen Gefühle? Ich muss Dir sagen: Ich werde das Bild nicht behalten. Ich kann es nicht. Ich finde es schrecklich und werde es aus dem Rahmen lösen und fortwerfen. Denn Du hast es auch hinter Dir gelassen. Irgendwann hast du geleistet, was kaum ein Christ je tut: Du hast die Bibel selbst vom ersten Kapitel bis zur letzten Zeile gelesen und Dich dabei entsetzt ob eines strafenden und zürnenden Gottes, der Blutvergiessen zulässt oder womöglich gar zu fordern scheint. Du hast antworten gesucht bei Pfarrern, und keine erhalten, wobei ich nicht weiss, ob Du Dein Urteil nicht zu sehr schon selbst getroffen hattest, bevor Du überhaupt Deine Fragen gestellt hast. So war es ein bisschen Deine Art und das Fragen war mehr ein Suchen nach Bestätigung der eigenen Kritik.

Mit mir hast Du nicht viel über die einzelnen Elemente Deiner Zweifel gesprochen, aber ich habe sie Dir auch nicht zu nehmen versucht, so lange es um die Auslegung biblischer Geschichten ging. Du hast mich dazu gebracht, Dir einfach von meinem Glauben zu erzählen, und ich habe es gern getan, ganz bewusst auch in den kindlich anmutenden Teilen. Denn was ist denn Wahrheit, wenn es darum geht, einander zu erzählen, was man glaubt, hinter der Grenze von Leben und Tod anzutreffen? Es ist gefühlte Zuversicht, Ruhe angesichts von drohendem Nichts.

Aber die Angst dieses Mädchens auf dem Bild vor dem Unbekannten, Drohenden, ist es nicht. Sie ist ganz einfach von Menschen geschürt.

Du hast Dir Dein Gerüst an Wahrheiten ein gutes Stück weit zusammengeflickt, so, wie die meisten von uns es zumindest in Teilen tun. Und doch hast Du es geschafft, Deine letzte Aufgabe anzugehen ohne die Sicherheit, nicht in Nichts als ins Dunkel zu fallen. Wo Du die diffuse, aber alles bestimmende Angst des Mädchens auf dem Bild hinter Dir gelassen hast, weiss ich nicht. Mir hast Du sie auf jeden Fall nie vermittelt. Und am Ende war da einfach Deine Ruhe und innere Freude, dass es nun Zeit sein darf. Ich denke, Du hast ein paar grosse, sehr grosse Steine zur Seite geräumt in Deinem Leben, von denen ich keine Ahnung habe.

Das Bild hat sich überlebt. Nicht erst mit Deinem Tod.