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Das besondere Inserat für eine Lebensstellung, 100%

∞  9 November 2010, 19:05

Wohl noch nie war der Einzelne in einer Gesellschaft so sehr individualisiert wie heute.

Der heutige Idealtypus ist nicht nur eigenständig sondern unabhängig, er liegt niemandem auf der Tasche und zieht uns das Geld höchstens deshalb dennoch aus dem Beutel, weil wir Konsumenten sind. Er ist Beispiel für Selbstverantwortung, die nichts mit dem Gemeinwohl zu tun hat, aber wenn solcherlei Eigenschaften allen gemein wären, wäre uns allen wohl. Dass das Blödsinn ist und dass wir je länger je mehr in die Sterilität steigender Beziehungslosigkeiten geraten, wissen wir wohl. Aber das, was wir uns ersehnen, die Wärme, die wir vermissen, wird ersatzbehandelt mit einem Wohlstandslevel, das noch nie so hoch war – für mehr Menschen als je zuvor.

Unsere Aengste sind dennoch grösser geworden als je zuvor. Vielleicht gerade darum, weil mittlerweile sehr viele Menschen sehr viel zu verlieren haben. Es ist, als hätten wir unser Verhältnis zu unserem gestiegenen Wohlstand eingebüsst, wären wir uns darin selbst fremd und unpersönlich geworden.

Und die Jungen? Klimaerwärmung statt kalter Krieg. Unsichere Lehrstellensuche und noch unsichere Altersversorgung statt Abnabelung von den Erwachsenen mittels langen Haaren, Naden in den Augenbrauen oder wüster Musik. Alles nicht mehr schockierend. Wenn man ganz viel Pech hat, sitzt Mutti sogar auf der Bettkante und will die gleiche Musik auf dem eigenen iPod haben.

Wir frönen also dem Wettbewerb in einer globalisierten Welt, in der die unbegrenzten Möglichkeiten winken – eine andere Ideologie ist nicht übrig geblieben…

Die Kapuziner Mönche haben in den letzten 20 Jahren die Hälfte der Brüder verloren. Es sind noch gut 200 in der Schweiz. Mönche? Ins Kloster? Es kann nicht verwundern, dass das nicht in die oben beschriebene Welt, in unsere Gegenwart und das Menschenbild von heuge passt. Dennoch hat sich der Kapuziner Orden genau dazu entschlossen: Für den Eintritt in die Gemeinschaft genau dort zu werben, wo qualifizierte Menschen nach neuen Jobs suchen. Im Stellenanzeiger ALPHA zum Beispiel. Es ist ganz interessant, ein solches Inserat einmal ganz durchzulesen. Damit werden ein paar Vorurteile angekratzt, die reflexartig aufkommen mögen, wenn man “Kloster” und “Mönch” hört.

Ein paar Stichworte des Gebotenen:

– Lebensstellung 100%

– keine Bezahlung, sondern Spiritualität und Gebet

– Kontemplation

– egalitäre Lebensform

– Freiheit von persönlichem materiellem Reichtum

– entwicklungspolitische Tätigkeitsfelder

– Lebenssinn

– Leben in einer Gemeinschaft

– solidarisch getragene soziale Sicherheit

– theologische Ausbildung

– nach der Ordensausbildung u.U. Ausübung des angestammten Berufs an einem Arbeitsplatz ausserhalb des Klosters.

Also: Die Schwierigkeiten des gelebten Zölibats sind hinlänglich bekannt. Aber auf der Habenseite stehen ein paar Dinge, die eine ganze Menge Druck von der menschlichen Seele nehmen können, oder? Und das beste: Diese Menschen leben nicht grundsätzlich abgeschottet hinter dicken Mauern, sie sind durchaus unter uns und sind dem Leben zugewandt.

Ich finde den Schritt, mitten in den Stelleninseraten von Banken und Versicherungen nach Bankern, Journalisten, Lehrern, Kaufleuten etc. zu suchen, spannend und interessant. Inserate für Handwerker etc. in ähnlicher Form sollen übrigens folgen.





PS: Der Artikel ist nach einem Hinweis aus der Leserschaft entstanden: Danke Relax-Senf


Links zum Thema:
Leitbild der Kapuziner in der Deutschschweiz
Kapuziner suchen Mönche per Stelleninserat
Wir erwarten Leute mit Tiefgang
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frühere ähnliche Artikel in diesem Blog:
Ein Dominikaner erzählte