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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Bürger ohne Bewegung und Inspiration

∞  28 Dezember 2012, 14:26

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Ich bin versucht, unsere Periode das postrevolutionäre Zeitalter zu nennen. Wir haben für unseren Protest keine Chuzpe, keine Energie, keine Zeit – und wenn er dann doch sich Bahn brechen wird, fehlt uns die Perspektive – oder die Eigenständigkeit, ihn durchzusetzen.

Ich bin bei meiner Buchlektüre [1] auf folgende Erklärung gestossen:

Wir wollen Spielraum für wirtschaftliche Initiative, aber keine Entartung in eine Ellbogengesellschaft. Wir wollen das Bewährte erhalten und doch Platz für Erneuerung schaffen, um sparsamer und weniger naturfeindlich zu leben. Wir wollen geordnete Verhältnisse, aber keine Bevormundung. Wir wollen freie, selbstbewusste Menschen, die doch gemeinschaftsbewusst handeln. Wir wollen vor Gewalt geschützt sein und dabei nicht einen Staat von Bütteln und Spitzeln ertragen müssen.

Ich denke, die meisten von uns würden diese Worte problemlos unterschreiben können, nicht wahr? Wir leben in einer Welt, deren freiheitliches unreguliertes Wirtschaftssystem in sich selbst zu kollabieren beginnt, und wir kennen je länger je mehr Staaten, auch und gerade westliche, die im Anspruch, für unsere Sicherheit zu sorgen, Persönlichkeitsrechte ihrer Bürger zurück nehmen. Die Angst vor Terror und Gewalt, vor dem fremden Ausländer, ist eine Angst, die allen eigen ist, mit ihr lässt sich gut Politik machen. Die Angst, dereinst zu den Verlierern zu gehören, bleibt nach wie vor diffus und unbestimmt, da wir persönlich ja hoffen können, vielleicht mit Grund, nicht auf diese abschüssige Seite zu geraten. Und gegen wen sich wenden, wen verantwortlich machen? Wir erlahmen selbst mit unserer Empörung vor dem Eindruck, die wirtschaftlichen Zwänge wären Teil einer Fremdbestimmung, die sich nicht oder höchst unzureichend eindämmen liesse.

Nun, die oben zitierte Erklärung ist Teilzitat aus dem

Aufruf zur Gründung der Initiativgruppe Neues Forum, unterzeichnet von dreissig Persönlichkeiten am 10. September 1989, in Grünheide, bei Ostberlin in der DDR,

im Zuge der friedlichen Bürgerbewegungen in Ostdeutschland. Diese Revolution des Volkes ist bald 25 Jahre her, und es erschlägt mich immer wieder von Neuem, wie wenig dieser Teil Weltgeschichte heute Teil des Wissens im vereinigten Deutschland ist. Und so ist der Ansatz, den Staat als Gewährleister eines sozial verträglichen Miteinanders zu erhalten, genau so bachab geschwommen wie jede andere Form einer gelenkten Marktwirtschaft.

Noch haben wir keine Volksaufstände, trotz 50% Jugendarbeitslosigkeit in manchen südeuropäischen Ländern, trotz Schuldendruck in ganz Europa, trotz tausender von Milliarden, welche das Finanzsystem aufgefressen oder aber gebunden hat, trotz Spardruck, der in der Folge auf den Billiglohnsegmenten und dem unteren bis mittleren Mittelstand lastet. Und wenn wir sie “bekommen”, was wird die Perspektive sein? Es werden Renten gefordert werden, und Arbeit, vielleicht etwas mehr Bildung. Aber in welchem politischen System? Mit welchen übergeordneten Werten, auf die hinwirkend sich der Staat auch lenken liesse?

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[1] Joachim Gauck, Vom Pastor zum Präsidenten, von Norbert Robers, Koehler & Amelang



Kleine Anmerkung: Hiermit ist auf thinkabout.ch und damit im Blog in diesem Kleid seit Februar 2007 der 3000. Beitrag erschienen.
Thinkabout bloggt seit Oktober 2004.