Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Aus Senecas Welt

∞  1 Mai 2007, 19:39

Für mich immer wieder ein Erlebnis, wie sehr die Worte weiser Menschen alter Zeiten unverrückbar Wahres bekunden, Trost und Hilfe sein können, obwohl sie betreffend der Tugenden von Männlein und Weiblein und ihrer Rollenbilder gar wunderliche Dinge verkünden können. So lese ich bei Seneca (“Von der Seelenruhe”) von den Tugenden seiner Mutter, die sie nach seinem Urteil


“von der weiblichen Natur ja gerade entfernt haben”


Ja, ja, das Weib, das sündige Wesen, gefährlich für die Redlichkeit des Mannes, oder wie? Aber ich muss es gar nicht so genau wissen, denn, abgesehen von der dazu passenden etwas schwerfälligen Sprache, sind auch Perlen zu entdecken und gar leicht aufzuheben beim Lesen, etwa, wenn ich


von der nutzlosen Qual vergeblichen Strebens

lese: Wie viel Zeit verbringen wir immer wieder damit, einer Sehnsucht nachzuhängen? Wo hört die Hartnäckigkeit auf, mit der ein Ziel zu verfolgen ist, weil sie in Zwängerei umschlägt?
Warum wollen wir immer das andere und nicht das, was uns geboten wird?
Warum überschätzen wir uns und sind so selten zufrieden mit dem Erreichten? Welche Erwartungen an uns haben wir zu unseren eigenen gemacht?

Dabei beschreibt er seiner Mutter gleich selbst das verschiedene Wesen seiner zwei Brüder:


Der eine hat durch unermüdlichen Einsatz hohe Ehrenstellen erlangt, der andere hat sie wohlbedacht verschmäht. Am Ansehen des einen wie in der Ausgeglichenheit des anderen […] kannst du Trost und Ruhe finden.

Wunderbar, wie hier nicht gewertet wird, sondern verschiedenen Seelen verschiedene Antriebe zugebilligt und diese gewürdigt und der dafür erhaltene Lohn erkannt werden. Wer vermag zu sagen, welches Lebensziel einer Seele in dieser Lebenszeit möglich ist? Wir können sie doch immer nur selbst befragen.

Wie überhaupt in diesen alten Schriften eine Art Redlichkeit hoch gehalten wird, die wir längst einzufordern müde geworden sind! Für mich bleibt dies eine Kapitulation der schlimmeren Sorte, mögen Männer und Frauen unserer Zeit auch von einengenden Rollenbildern befreit worden sein. Also von den alten, meine ich. Bitte keine Werbeplakate studieren und heute keine Werbespots ansehen. Wenigstens heute.

***