Mein Schreiben. Täglich.

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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Aus einem Spital: Usanzen von Instanzen

∞  26 September 2011, 21:12

Wie tief die persönliche Betreuung in einer technisch hochstehenden medizinischen Behandlung doch sinken kann…


Unsere Gesundheitsversorgung ist eine der besten der Welt – und eine der teuersten. Wenn wir davon sprechen, dass wir diese Qualität wollen und daher die jährlichen Prämienerhöhungen der Krankenkassen einigermassen klaglos hinnehmen, so denken wir dabei vor allem an die technisch –medizinisch hochstehende Versorgung, die eine sehr umfassende Betreuung schon in der Grundversorgung vorsieht. Nicht damit in Verbindung bringen wir das, was auch nicht geleistet wird, wahrscheinlich deshalb, weil es auch nicht honoriert wird: Zeit und Gespräch. Jeder Arzt – und mit ihm wahrscheinlich jeder Patient kennt das:

Tarifpunkte können fürs Gespräch kaum oder gar nicht notiert werden. Eine konkrete Untersuchung – oder die Verschreibung von Medikamenten hingegen “schenken” sofort ein. Und die Apparatemedizin in Spitälern mit dem gestiegenen Druck, effizient zu sein, schlägt in die gleiche Kerbe: Jedes Spital braucht unbedingt alle Scanner und Apparate selber – und dass sie ausgelastet sind, werden die Patientendurchflüsse bei CT und MRI oder bei Bestrahlungstherapien von Krebskranken entsprechend kurz und eng getacktet, so dass man sich als Betroffener schon mal als Teil einer Maschinerie empfinden kann, in der man für ein aufklärendes oder informelles Gespräch mit einem Arzt schon mal besonders hartnäckig an Türen klopfen muss. Im Einzelfall spielt es für die Betroffenen aber keine Rolle, aus welchem Grund die Zeit fehlt – Kosteneffizienz hin, grosse Nachfrage her: Ich mag hier gern ein kleines Beispiel erzählen, mit dem niemand in die Pfanne gehauen werden, aber doch klar gemacht werden soll, wie absurd die Stereotypen sein können, die sich in einem Betrieb einer Bestrahlungsstation in einem Spital für Krebspatienten einstellen können:

Die Patientin beginnt eine Bestrahlungstherapie: Während sechs Wochen soll regelmässig, das heisst, ohne Unterbruch an jedem Werktag, fünfmal die Woche bestrahlt werden. Die ersten Erfahrungen sind nicht schlecht: Die Behandlung wird gut vertragen, aber die lange Hin- und Rückreise ist eine Strapaze, weshalb die Patientin nach zwei Wochen diskutieren möchte, ob es nicht möglich ist, die Behandlung jeweils am Mittwoch auszusetzen, damit zur Erholung einmal zwischendurch die Sechsstunden-Reise wegfallen kann.
Es wird ihr beschieden, das sei unmöglich, da es für den Erfolg der Behandlung absolut entscheidend sei, dass die Bestrahlung täglich erfolge. Ein paar Tage später ist sie etwas früher vor Ort und hat daher Zeit, die Informationen am schwarzen Brett zu lesen. Da heisst es dann:

Am kommenden Mittwoch fallen alle Bestrahlungssitzungen im Spital wegen einem Betriebsausflug des Personals aus.

Die Patientin nimmt dies zum Anlass, ihre persönliche Situation nochmals mit dem Arzt zu besprechen. Fortan ist der Mittwoch für sie frei. Das Ärzteteam ist zum Schluss gekommen, dass das mit einer veränderten Dosierung der Bestrahlung an den übrigen Tagen möglich ist.

Nun geht es leichter. Bleibt nur ein Problem: Schlafstörungen. Dagegen würden Schlaftabletten helfen. Doch sie findet keinen Arzt, der ihr welche verschreibt – wegen der generellen Suizidgefahr von Patientinnen in dieser Krankheitssituation. Und da der Hausarzt, an den sie verwiesen wird, in den Ferien weilt und sie keinen Termin beim Oberarzt bekommt, besteht sie darauf, dass sie jeweils nach der Bestrahlung eine Tablette ausgehändigt bekommt, die sie nach Hause nehmen kann. Das ändert sich erst nach ein paar Tagen, nachdem das Personal so genervt ist über die zusätzliche “Regie-Arbeit”, dass sie plötzlich ein Rezept vom Oberarzt in die Hand gedrückt bekommt.

Wie viele “Regeln” und Standards in unseren modernen Spitälern beruhen darauf, dass man aus Angst vor Klagen und in Ermangelung des engeren direkten Kontaktes mit Patienten Usanzen einführt, die “korrekt” sind – aber wenig bis gar nichts mit der persönlichen Situation der Betroffenen zu tun haben! In diesem Fall haben es die Ärzte und Betreuer mit einer kommunikativen Person zu tun, die sich zu wehren weiss. Und am Ende, da bin ich mir sicher, wird die Arbeit so für alle Beteiligten interessanter – weil Bestrahlungspatient xy ein Gesicht bekommt. Es darf auch ein kantiges sein.