Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Aus dem Leben eines bildungsfernen Studenten

∞  24 April 2010, 14:45

(Fortsetzung von gestern ) – Ich nahm die Werte und Leitplanken meiner Erziehung also mit nach Zürich. Sie halfen mir in der Orientierung, liessen mich eintauchen, aber nicht versinken. Vielem Neuem stellte ich das Wertesystem meiner Kindheit gegenüber, und darum liess ich mich auf gewisse Dinge ein, anderen ging ich aus dem Weg. Ich war nie gefährdet, in die Drogen abzugleiten; ich kiffte noch nicht mal. Es war, diesbezüglich, auch eine recht brave Schule. Ich lernte meine heutige Frau kennen, und als ich später die Schule Richtung Uni verliess, waren wir schon zweieinhalb Jahre ein Paar. Die optimistischste Schätzung unter Kollegen hatte uns ein paar Monate zugetraut… Ich dürfte mich für meine Eltern nicht bezüglich meiner Präferenzen verändert haben, auch die relative Zielstrebigkeit schien ich in mir zu tragen. Es war nur diese andere Welt, aus der sich kaum erzählen liess. Gab es Elternabende? Wohl kaum. Ich hätte mir auch meine Eltern nicht an der Schule vorstellen können… Da verweigerte sich der unausgesprochenenen Fremdheit jede weitere Bildgebung. Ich war nie ein grosser Erzähler zuhause. Nun wäre es eh das Erzählen aus einer ganz anderen Welt gewesen.

Dann ging es an die Berufswahl. Und das bedeutete Studienwahl. Ein Pausenjahr kam nicht in Frage. Eine praktische Ausbildung mit Lehre und direktem Berufsleben eigentlich auch nicht. Wenn schon, denn schon. Der Tribut gegenüber den Eltern bestand darin, nicht mehr als nötig auf der Tasche zu liegen. Ich lebte ein Privileg, also hiess es, vorwärts machen. Im Gymnasium hatte ich im direkten Erleben gespürt, wo meine Liebe lag – und vielleicht auch ein bisschen Talent. Aber Sinn machen musste ein Studium auch im Bezug auf die mögliche Anstellung, die Profession, den Broterwerb. Und ich wollte nicht Lehrer werden. Also keine Germanistik, keine Philosophie (Bewahre!) – und keine Theologie. Meinen Glauben wollte ich leben – ihn vorzuleben, schien mir aufgesetzt, fremd, alles Missionarische wies ich von mir. Was ich schliesslich wählte, war Jurisprudenz. Da, sagte ich mir, hat es von allem etwas “drin”. Geschichte, Rechtsphilosophie, Umgang mit Sprache.

Erst heute ist mir klar, dass die meisten meiner Schulkollegen ganz andere Leitlinien hatten. Sie folgten einer Vorgeschichte aus dem Elternhaus, waren eingezwängt in Vorstellungen, aber auch in Unterstützungen, welche bestimmte Wege vorgaben.

Und mein Freund wollte Arzt werden aus Berufung. Die schönste aller Vorspuren… Aber es gab auch ganz andere. Der Herr, der Zahnarzt werden wollte, weil man da am besten verdiente. Wahrscheinlich hat ihm das sogar sein Vater ausgerechnet nach einer Feldanalyse…

Also studierte ich Jura. Doch nun war ich wirklich fremd. Je länger je mehr. Ich hatte tolle Kollegen, die ich als meine Freunde bezeichnete – aber sie alle stammten tatsächlich aus “anderem Haus”. Der praktische Bezug zu Hause war schon ein ganz anderer. Kaum einer sah sich zwar genötigt, neben dem Studium ein Praktikum zu machen, aber die meisten sahen über ihr privates Umfeld in das entsprechende Berufsbild hinein.

Ich aber litt unter der Theorie und dem Schubladendenken in der Stoffvermittlung, und je länger je mehr merkte ich, dass ich zuviele Kompromisse eingegangen war. Ich hatte vernünftig gehandelt. Pflichtgetreu war die Absicht, blutleer der Motor. Die Bildung, an der ich geschnuppert hatte, wurde im Studium eher pervertiert als gefördert. Die Semester reihten sich an einander, unterbrochen vom jeweiligen Militärdienst. Ich verlor den Atem – und fand berufliche Anbindungen, für die ich das, was ich im Studium lernte,nicht brauchen konnte. Nun war die bildungsnahe Welt die Scheinwelt, und ich fühlte mich und meine Studienwelt entlarvt: Wir hatten zu allem eine Meinung und von nichts wirklich eine Ahnung. Während mein Bruder neun Jahre zuvor wohl ähnliche Wahrnehmungen hatte, die aber bei den Hörnern nahm, sich noch mehr reinkniete und als erstes mal Assistent eines Professors wurde, wählte ich eine Art innere Rebellion, und mag sie nur darin gelegen haben, die Dinge wirklich so anzusehen, wie ich sie wirklich sah.

Ich zog zu Hause aus, hauste in einer Studentenbude. Aber ich arbeitete auch ein wenig. Ein kleiner Betrieb, aber viel Potential – und vor allem eine Aussicht auf Selbständigkeit, auf Gestaltungsmöglichkeiten und Anforderungen, für die es keine Form brauchte, kein “Comment”, sondern harte aber ehrliche Arbeit und Überzeugung, wollte man verkaufen, was man zu bieten hatte. Und kaum wusste ich, dass dich die Demut des Verkäufers aufbringen würde, spürte ich Lust auf mehr – da häuften sich die Zeichen. Eine Abschlussarbeit, die gerade mal so zu “genügend” hingebogen wurde, wie ich es empfand, war ein Stück Goodwill zuviel. Und gleichzeitig war eine gesundheitliche Indisposition des Patrons im Geschäft der letzte Fingerzeig – und endlich zeigte ich Flagge: Ich schmiss das Studium und kehrte in eine Welt zurück, in welcher bodenständige Werte eines einfach strukturierten Handelsgeschäfts viel entscheidender waren als römisches Recht.

Dass ich nun der Welt meines Vaters wieder sehr viel näher war, dürfte für niemanden so sehr eine Enttäuschung gewesen sein, wie für ihn. Dieses Paradoxon ist typisch, und ich wünschte, er würde heute sehen können, dass alles sich zum Guten gewendet hat. Ich wünschte, er würde es sehen, aber ich fürchte, selbst wenn er noch lebte, er könnte dies bis heute nicht. Für ihn habe ich wohl eine Gelegenheit ergriffen, mich aus dem Staub zu machen: Die Welt mag noch so fremd sein, in der sich der Sohn bewegt. Aber er geht seinen Weg und beisst sich durch. Er gibt nicht auf und ist auf niemanden angewiesen.

Als wir uns eine Wohnung kaufen konnten, war er, vor vielen Jahren, das letzte Mal zu Besuch. Er sass am Tisch, schaute sich alles an, oder zumindest das, was er von seinem Platz sehen konnte, und sagte: nichts. Ich weiss bis heute nicht, ob er sich freuen konnte. Ganz sicher war ihm so mancher Nippes fremd, den wir auf Reisen sammelten, ihm war alles Grosse, oder grösser Werdende schnell ungeheuer, und doch wollte er Stolz sein können. Ob er es war? Ich weiss es bis heute nicht. Ich ging meinen Weg, auch wenn ich ihn längst selbst definiert hatte. Das war ganz wichtig. Meine Rebellion, dieser kleine unspektakuläre Schritt eines Studienabbruchs – er war eine Befreiung. Sie führte mich mitten in die Realität und plötzlich waren alle Dinge handfest – mit dem besten Kameraden an der Seite, den man sich vorstellen kann. Und der mich auch stets für das schätzte, was ich mitbrachte – und verhinderte, dass Werte wie Plfichterfüllung und Einsatz sich in Sackgassen verrannte – weil Thinkabout´s Wife stets einen Finger auf die Erwartungen hielt, so dass ich in ihnen auch das selbst gebaute Gefängnis wahrnahm.

Ich bin weiss Gott nicht zum Bildungsbürger geworden. Seit fünf Jahren schreibe ich wieder. Als der, welcher ich bin. Ich hätte gern ein Leben voller Bücher gehabt. Es ist anders gekommen, und es hat keinen Sinn, zu meinen, man müsse nun etwas aufholen. Wie sehr darin trotzdem Wehmut liegt, mag man daran sehen, was ich mir als Belohnung ausmale, sollte ich jemals ein richtig dickes, fettes, sprich, erfolgreiches Buch schreiben: Ich würde mir vom Verlag das Recht aushandeln, wöchentlich ein Buch zu bestellen. Lebenslänglich. Der Zwang, es dann auch zu lesen, wäre der doppelte Lohn.
Ich würde ganz anders schreiben, hätte ich mehr gelesen. Würde ich mehr lesen. Mehr Zeit ist nun da. Ich habe vor gut drei Jahren meine Arbeitswelt umgekrempelt und die Zeit gewählt. Die Zeit, die mir zum Lehrer wird in der Kunst, die Frage zu stellen:
Wer bin ich? Und auch die Antworten darauf. Wobei es wie in der Forschung gilt, festzustellen: Viel wichtiger als die Antworten sind die neuen Fragen. An ihnen kann man erkennen, wie nebensächlich die scheinbar wichtigen Dinge werden – oder wie einfach die Fragen sind. Fast so einfach, wie die Antworten. In den Büchern sind sie zu finden. Die Fragen auf jeden Fall. Doch Antworten darin nehmen wir wohl immer nur dann an, wenn wir sie in uns selbst finden. Dazu aber kann jedes geschriebene Wort ein Wegweiser sein. Womöglich gar in Blogs.