Mein Schreiben. Täglich.

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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Aus dem Leben eines bildungsfernen Gymnasiasten

∞  23 April 2010, 21:54

Ich habe heute per Radio die Information aufgeschnappt, dass dieses Jahr erstmals seit langem der Anteil der Studierenden aus sog. bildungsfernen Schichten wieder zugenommen hat. Ich weiss nicht, ob die Aussage für Deutschland oder die Schweiz getroffen wurde, und auf welchem Radiosender es verbreitet wurde. Aber das ist hier auch egal, denn der Artikel soll von dem handeln, was mir in der Folge durch den Kopf gegangen ist.

Ich bin ein solcher Studierender aus einer so genannt bildungsfernen Schicht – wenn man damit ein kleinbürgerliches Elternhaus meint, mit fleissigen, arbeitsamen und strebsamen Eltern, die Mutter für die Kinder da, der Vater aus einer handwerklichen Lehre zum Bürolisten und doch zum stolzen Häuschenbauer und -besitzer geworden.

Ich weiss, dass es bei dieser Frage nicht um den Wert meines Elternhauses geht – sondern um gesellschaftlich-soziologische Phänomene. So wie ich aufwuchs, spürte ich davon herzlich wenig. Es gab keine Ausgrenzungen. Im Quartier spielten die 15- bis 5-jährigen im einer grossen Blase zusammen, was für die Kleinen manchmal hart war, aber jeder gehörte dazu. Man boxte und boxte sich durch, und niemandem kam es in den Sinn, einen Gedanken daran zu verschwenden, ob der andere mit dem silbernen Löffel ass. Wenn man mit dem Damenrad, 3-Gang-Schaltung, mit Kollegen mit “Halbrennern”, ja, das gab es damals noch, mit einem Kettenrad mit sechs Gängen, um die Wette hechelte, den Stutz hoch zum Fussballtraining, dann spürte man was davon, aber das gab einfach noch bessere Wadenmuskeln, und nicht selten war ich der Schnellere. Und im Fussball zählte eh nur die Technik – und die Kameradschaft.

Natürlich war das leichter, weil das Quartier recht ausgeglichen war und die meisten Kinder Väter hatten, die als Angestellte in nahen Firmen arbeiteten. Die wenigsten Mütter waren berufstätig, und Freizeit hatten wir alle.

Schön war das. Als ich die Prüfung ins Gynmasium ablegte, war ich auch alles andere als allein. Aus der Klasse schafften das zwei Handvoll. Ein besonderer Jahrgang hiess es, aber auch besondere Lehrer, die “Lehren” mit “Fördern” und “Unterstützen” übersetzten – und das auch lebten. Nein, alles war in Ordnung und jeder Eifer war in eine Struktur eingebettet, in der sich niemand besonders oder weniger fühlen musste – rein äusserlich gesehen. Auf jeden Fall hat das mich und meine Kameraden nie interessiert.

Dann, im Gymi, Schule in Zürich, tägliche Zugfahrten, da bekam ich eine Ahnung. Es wurde zum Teil anders gesprochen, Bücher, die wir lasen, waren solche, von denen ich schon gehört hatte, zumindest von den Autoren, aber von keinem dieser Autoren stand je ein Buch bei uns im Regal. Es standen da überhaupt keine Bücher. Zumindest so weit ich mich erinnern kann. Mein Vater hatte Bildbände im Schrank, schön verschlossen. Es gab damals SILVA-Bücher, die man nach einem Kunden-Rabattmarken-System zusammen sparen konnte, oder auch abonnieren, ich weiss es nicht mehr und es spielt auch keine Rolle mehr.
Für mich war es etwas Besonderes. Ich klebte die Bilder ein, oder nach, wenn sie lose schienen, und ich konnte mich nicht sattsehen an den Reportagebänden über Afrika zum Beispiel. Und ich las Jugendromane. Alles über Irokesen und Indianer, Karl May natürlich, und wilde Bubenromane, deren Titel ich nicht mehr erinnern kann.

Aber erst als ich ins Gymi kam, füllte sich mein Regal mit Büchern von Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt, Siegfried Lenz, Heinrich Böll usw. usw. Von den Klassikern in den Reclam-Bändchen ganz zu schweigen. Ich habe sie noch heute. Es dürften über hundert sein. Die Eltern waren stolz auf ihre Söhne – und in der Verwandtschaft waren wir Exoten: Die einzigen der Sippe, die studiert hatten. Bis heute, glaube ich, aber nur auf dem ersten Bildungsweg. Und in dieser “klassischen Welt” da wurde ich Schicht. Ich spürte es nicht quälend – nach wie vor grenzte mich niemand aus. Ich tat es teilweise selbst, aber das hatte wohl mehr mit meinen eigenen Vorstellungen von Kameradschaft und Freundschaft zu tun. Mir wurden wenige gute Freunde wichtiger als viele “gute Kollegen”. Heute bin ich nicht mehr sicher, ob nicht auch Standesunterschiede schon eine Rolle spielten. Doch ich nahm es nicht so wahr. Ich hatte keine schulischen Probleme, bewältigte die Anforderungen ohne grosse Mühen – und war in gewisser Weise unangreifbar.

Wo ich Trennung spürte – das war zuhause. Ich fühlte sehr wohl, dass ich anders sprach, noch mehr anders, als das früher wohl schon der Fall war. Fremdwörter, die ich erstmals hörte in der Schule, blieben bei mir hängen, ich baute sie in meine Sprache ein, und insbesondere mein Vater dürfte damit seine Schwierigkeiten gehabt haben. Es wurde offensichtlich: Ich wurde fremd. Bei Schularbeiten konnte mir niemand helfen – ich wäre auch nie auf die Idee gekommen, Hilfe zu suchen. Mit meiner Mutter teilte ich die Freude an der Sprache – aber Bücher las sie eigentlich kaum, und wenn, dann vielleicht Readers Digest oder einen Ratgeber oder “was Besinnliches”, was “Schönes”.

Nie hätte ich meine Eltern ausgelacht oder klein gemacht. Meine Achtung vor ihren Leistungen, ihrer Sparsamkeit, Zielstrebigkeit und dem Sinn für eine Pflichterfüllung, die niemandem, schon gar nicht der Gemeinschaft auf der Tasche liegen wollte, und vieles mehr fand ich in mir selbst wieder. Aber alles, was jung in mir war und die Welt entdecken wollte, bewegte sich von zuhause weg. Und das in einer sehr viel schmerzvolleren Weise, als wenn meine Eltern diese Welt und dieses schulische Umfeld gekannt hätten.

Fortsetzung folgt