Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Auf dem Ballspielplatz statt im Atelier

∞  28 März 2010, 19:40

Ich kann verstehen, dass ich mich dem Verdacht aussetze, ich wollte von den Problemen der (katholischen) Kirche ablenken, wenn ich betone, dass die Frage nach Kindsmissbrauch begünstigenden Konstellationen nicht auf die Kirche beschränkt bleiben darf, weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart. Ich bin überzeugt, dass wohl keiner von uns Männern sich nicht an mindestens eine Situation in seinem Heranwachsen erinnern kann, bei dem nicht eine gewisse homoerotische Komponente mit ins Spiel kam zwischen dem lerneifrigen Jungen und seinem Vorbild, dem lehrenden, väterlichen oder sonst autoritär ausgestatteten Erwachsenen, der Charisma hatte und dem ich also nacheifern wollte. Ich wollte so sein wie er. Kinder imitieren ihre Vorbilder, und sie suchen sich diese und finden sie in ihrer näheren Umgebung – oder eben in einem Umfeld, das darauf ausgerichtet ist, den hoffnungsvollen Nachwuchs zu führen. Meistens geschieht dabei nichts weiter und die Grenzen werden gewahrt. Aber oft ist es nur ein winziger Schritt, der die Berührung zu mehr machen kann, als sie sein dürfte.
Und ich möchte dafür ein Beispiel anführen, das zeigt, dass ich damit nicht Berührungen meine, die an sich schon unsittlich sind:
In der Zeit Nr. 11 vom 11. März 2010 im Artikel “Gefährliche Nähe” zitiert Bernd Ulrich Richard von Weizsäcker, wie dieser 1997 schrieb:

Als ich elf Jahre alt war, nahm er [Hartmut von Hentig, Th.] meine Geschwister und mich in Berlin einmal in eine atelierartige, feierlich hohe Mansardenwohnung mit. Dort setzte er mich neben einen alten Herrn, der seine starke Hand um meinen Nacken legte, so dass ich sie dort noch bis heute zu spüren vermeine. Es war Stefan George, wie ich erst viel später erfuhr.


Bernd Ulrich schreibt dazu treffend:

Vergötterte Knaben, pädagogischer Eros, in Jungennacken ruhende Greisenhände – ein seltsames, verwischtes Milieu, getränkt mit dem schweren Parfum der Metaphysik.


Wenn ich persönlich diesen kleinen Auszug lese, dann wird mir sehr kalt und unheimlich zumute. Und das meine ich: Diese Atmosphäre einer entrückten Glorifizierung von Ideen, Bünden oder Idealen wird hinter sehr vielen Mauern dazu eingesetzt, gerade junge Menschen zu instrumentalisieren – oder eben zu benutzen.
Wir haben es geschafft, in unserer Gegenwart so mancher dieser Bewegungen die Maske der Verklärung herunter zu reissen, aber es ist damit nicht getan. Es genügt auch nicht, bzw. ist nich hilfreich oder auch nur Erfolg versprechend, Kinder vor jedem solchen Einfluss fern halten zu wollen. Solche Verbindungen, Begegnungen und Eifer nach Vorbildern gehören zu jedem jungen Leben. Entscheidend ist, dass die Kinder mit dem sicheren Gefühl dessen ausgerüstet werden, was sein darf, und was nicht sein muss, nicht verlangt werden darf. “Mein Körper gehört mir” war mal das Schlagwort einer lokalen Fraueninitiative. Es gilt, natürlich, auch hier. Und wie!
Aber auch dies möchte ich noch erwähnen:
Ich war als Kind in manchem Sommerferienlager, und da mit vielen Kameraden aus schwierigen Familienverhältnissen zusammen. Es gehörte zum Konzept der Organisation, dass diese Lager eben genau die Durchmischung von Kindern aus den verschiedensten Schichten und mit den unterschiedlichsten Geschichten fördern sollten. Es gab in diesen Lagern Kinder, welche durch die leitenden Personen erstmals erfuhren, was es heisst, in den Arm genommen zu werden. Und ich kann mich an Mädchen und Jungen erinnern, denen der Abschied nach zwei Wochen unheimlich schwer fiel. Wie schwierig muss das sein, hier als Lehrperson die Balance zu halten? Ich könnte keinen Fall benennen, in dem ich wirklich das Gefühl hatte, es wären Grenzen überschritten worden. Aber ich kann es – natürlich – nicht ausschliessen. Doch wo kein Verdacht, da ist erst recht kein Richter. Und es stellt sich mir eine ganz andere Frage: Wären diese Lager heute noch möglich? Wären die leitenden Frauen und Männer in der Lage, heute mehrere Sommerlager “ohne Verdacht eines Übergriffs” zu überstehen? Und was ist umgekehrt aus den Kindern damals geworden, welche in diesen Wochen erlebten, dass sie etwas wert sind und dass sie gehalten werden können und umarmt, ohne damit etwas schuldig zu sein? Einfach nur, weil sie eben wirklich liebenswerte Jungen und Mädchen sind? Da fällt mir noch etwas auf:
Alle diese versöhnlichen, umarmenden Gesten, an die ich mich erinnern kann, fanden draussen statt, inmitten anderer Anwesender, rund ums Spiel, in völlig freier, ungezwungener Atmosphäre. Der einzige Pathos, den es gab, war die Freiheit des Kindes, das Bedürfnis nach Spiel und Geborgenheit. Ich glaube, ich kann mich daran so gut erinnern, weil diese Atmosphäre so sensationell einfach und ehrlich war, eben ohne jede Sensation, einfach Gefühl.


Ich danke dem Personal für das sichere Gespür, das es für uns hatte. Wirklich ausserordentlich. Dabei hatten die meisten von uns wohl schon viel zu viel erlebt.