Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Auf Augenhöhe

∞  10 Oktober 2013, 20:28

Heute in der Stadt: Es ist so mieses Wetter, dass ich noch nicht mal die Kompaktkamera aus der Hosentasche klauben mag. Es regnet, nein, es sträzt, es schifft. Und zwar nur einmal. Weil ununterbrochen. Auf der Bahnhofstrasse in Zürich aber kommt es zu besonderen Begegnungen.

Auf der Einkaufsmeile sind an mehreren Stellen die Gehsteige aufgerissen und Bauarbeiter stehen bis zur Hüfte oder tiefer in den aufgebrochenen Strassengruben und wechseln Leitungen aus. Lehm klebt an den Übergewändern, Baugerät wird mit klammen Fingern bedient, von den Schutzhelmen tropft das Wasser. Es wird konzentriert gearbeitet, denn, logisch, das Bild ist nicht unbedingt das, was ausgabefreudige Touristen auf der Einkaufsmeile in Zürich erwarten. Entsprechend dürften Zeitvorgaben in den Hinterköpfen stecken.

Die Bahnhofstrasse ist sonst schon ein besonderer Ort in Zürich, an dem sich das soziale Gefälle unter Einwohnern und Gästen berührt und dabei erst recht sichtbar wird: Von der angesichts jeder vermuteten Gewöhnlichkeit indignierten Chanel-Frau bis zum ungefragt mit dem Banknachbar philosophierenden randständigen Alkaholkranken in zerschlissenen Kleidern kann man hier alles entdecken – auf engstem Raum. Und für Sekundenbruchteile verschmelzen vor den Augen des Betrachters dann zwei Lebensläufe, und es lässt sich vielleicht ahnen, dass gar nicht so viel anders laufen müsste, dass sich die Rollen tauschen liessen – oder angleichen könnten.

Mancher spitze Schuh schwebt hier auf absurden Wolken, und mancher Arbeiter hat nicht nur Muckis, sondern auch eine Bodenhaftung, die nicht nur aufgezwungen ist. Heute, an der Bahnhofstrasse, kann ich Begegnungen beobachten, die mich bestimmt haben grinsen lassen: So mancher ältere Herr mit breiter Hutkrempe bleibt an einer der Baugruben stehen und mustert interessiert die offen gelegte Innerei der Stadt und die Arbeit jener, die dafür sorgen, dass wir Strom und Wasser haben. Immer. Und das breite südländische Lachen aus der Grube wird, etwas scheuer zwar, erwidert.

Und dann dies: Einer dieser Herren geht an seinem aufgestützten elegant zusammen gerollten Regenschirm im Schutz eines Vordachs in die Knie, weil er ein Gespräch mit einem der Arbeiter führen will, so dass die Unterhaltung einigermassen auf Augenhöhe fortgesetzt wird.

Es ist nur eine kleine Geste, aber nirgends könnte sie eine grössere Wirkung haben als gerade hier, auf dieser noblen Flanier- und Einkaufsmeile. Es ist einer dieser Momente, in denen für mich als Betrachter alle Ablenkungen weg fallen. Die Menschen hinter und neben mir sind in Watte gepackt und ich höre sie nicht mehr. Und die zwei Männer auf der andern Strassenseite scheinen sich in Zeitlupe zu bewegen – aber ausgezeichnet zu unterhalten. Dann tippt der Mann in der Grube mit dem Finger an die Helmkrempe, er muss weiter machen. Ein kurzes gegenseitiges Nicken, und der Spuk ist vorbei – aber mir hat er sich eingeprägt als ein ganz einfaches absolut reales Zeichen an menschlichem Respekt.

Bitte ein paar Tonnen mehr davon!