Mein Schreiben. Täglich.

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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Auch ein Geschäftsmodell

∞  12 Mai 2012, 15:12

Ein Strassenmusikant auf der Erfolgsspur.

istockphoto.com/koun

Ich muss, wenn ich zurückdenke, immer noch schmunzeln:

Ich habe den alten Mann vor meinem erinnernden Auge, als stünde er noch immer vor mir:

Ein langer Schlacks, hager, die Regenjacke hängt ihm am Körper wie an einem zu schmalen Kleiderbügel. Um den Kopf geschlungen trägt er eine Art Turban, der aussieht, als wäre er aus alten Leinen-Handtüchern zusammen geknüpft worden. Die Füsse stecken unter zu kurzen Hosen in zu grossen Schuhen, die zerschlissen sind. Die Jacke aber wirkt recht neu, und vielleicht ist sie die erste Anschaffung aus dem Geschäftsmodell, das der alte Mann eben gerade wieder in die Tat umsetzt:

Vor ihm auf dem Boden steht eine zerbeulte Kartonbox, mit zwei, drei kleinen Münzen drin: Eine Sammelbox für Strassenmusiker ist niemals leer, aber das ist das Einmaleins in dieser Zunft: Eine leere Box lässt Passanten viel eher denken: “alle anderen geben auch nichts”. Und wenn die Performance danach ist… und dazu komme ich jetzt gleich.

Der alte Mann befördert also eine Blockflöte aus den tiefen seiner Jackentaschen ins dämmrige Abendlicht und setzt das Teil, das wir alle aus unseren allerersten musikalischen Übungen kennen, an seine dünnen Lippen, um ihm alsbald Töne zu entlocken. Oder so was Ähnliches. Kein Ton passt irgendwie zum nächsten oder vorherigen, es ist ein Gefiepe und Gekreische der grotesken Art, eine Kakophonie, wie sie ein Kleinkind besser hinkriegen würde – aber es funktioniert: Schon klimpern die ersten Münzen. Augenscheinlich sind es vor allem weibliche Teenager, die dem alten Mann zugetan sind – um dann schnell weiter zu hasten, möglichst ausser Hörweite. Herrlich sind die Reaktionen des Strassenmusikanten: Kaum fällt eine neue Münze in die Box, so unterbricht er immer wieder sein Spiel, legt die Blockflöte fein säuberlich auf den Boden und klaubt sich die Münze aus dem Karton. Er steht auf, beäugt sie von allen Seiten, mit ungläubigem Gesichtsausdruck, und ich warte unwillkürlich darauf, dass er prüfend darauf beisst.

Dann legt er die Münze zurück, oder, wenn darin schon ein paar liegen, steckt sie ein – sicher ist sicher. Dann greift er erneut zur Blockflöte und macht weiter. Und tatsächlich: Kaum hat seine Flöte drei, vier Mal gepupst, klimpert es erneut – und das ganze Verhaltens- und Bewegungsmuster beginnt von vorn.

Hier kann jemand sein kleines Glück nicht fassen, das ihm alle gönnen.