Mein Schreiben. Täglich.

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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Atheisten oder Christen - Menschen braucht das Land

∞  5 Oktober 2010, 21:44

Ich wuchs in einem Umfeld auf, in dem die christliche Religion ganz selbstverständlich seinen Platz hatte. Dabei wurde der Glaube aber mehr in sich getragen als äusserlich praktiziert. Mir wurden zuhause zwar die christlichen Werte vermittelt und mein Gang durch den Konfirmandenunterricht und in die Jugendgruppe wurde von meinen Eltern unterstützt, ohne dass ich zu irgend etwas gedrängt worden wäre. Für mich war mein Glaube etwas ganz Natürliches, das sich niemals erschüttern liess.

Das ist bis heute so geblieben. Ich lebe Wochen lang ohne ein bewusstes Gebet, dann gibt es wieder Tage, an denen ich regelmässig Zwiesprache suche mit meinem Gott. Ja: Mein Glaube kennt einen personalisierten Gott, ein vis-à-vis, eine Ansprechperson. Wenn ich erklären müsste (oder dürfte), so sehe und erlebe ich ihn als meinen himmlischen Vater. Ich fand schon immer, dass ihn das am besten charatkerisiert: Ich erlebe ihn als diese eine besondere Vaterfigur, der wir alle zugehörig sind. Einen Vater, der sich unser Leben in einer bestimmten Weise wünscht, aber nicht für sich selbst, sondern für uns selbst, und dessen Liebe nie einen Zweifel daran lässt, dass ich ihm immer wieder neu willkommen bin, packe ich dieses mein Leben noch so falsch an.

Obwohl ich glaube, dass sich mir nach einer Hinwendung im Gebet (die man sich bei mir durchaus als innere Ansprache bei einem Spaziergang vorstellen darf) oft sehr schnell sehr klare Antworten zeigen, habe ich kein Bedürfnis, zu missionieren. Ich mag Gott oft recht nahe kommen, aber ich bin weit davon entfernt, zu glauben, ich würde mich ihm genügend öffnen. Dies ist ein immer wieder neu sich vertiefender Prozess, und ich verstehe mein Leben als eine von vielen Wegen, wie man als Mensch sich selbst näher kommen kann. Daher schreibe ich in aller Regel nicht so viel über meinen Glauben und lasse nur das anklingen, was davon sich als Haltung in allen möglichen Lebensfragen jedermann zugänglich formulieren lässt. Das hat mit Wischiwaschi nichts zu tun, aber sehr viel mit meiner Überzeugung, dass es viele, sehr viele Wege gibt, sich selbst zu entdecken und seinen Lebenssinn zu finden. Wege gibt es viele – die Wahrheit, die wir finden können, bleibt für alle Menschen die gleiche.

Trotz dieser entspannten Einstellung zu anderen Religionen und divergierenden Ansichten, die so manchen Christen, der das liest, befremden dürfte, war gerade mir die Tatsache, dass christliches Kulturgut in der Gesellschaft eine schleichend sich abschwächende Bedeutung hat, eine grosse Qual. Man kann wohl keine Religion so sehr als Schlüssel zu echter Selbstliebe begreifen, wie die christliche, und um so leichter sollte es fallen, diesem Gedankengut wenigstens den Platz in den Bücherschränken zu schenken, den es verdiente. Aber in welcher Bibliothek stehen die Mystiker des Christentums, die Philosophen unter den Theologen, wer kennt spirituelle Schriften christlicher Mönche?

Gleichzeitig gehöre ich zu jenen, welche die Prozesse nicht aufhalten wollen, indem staatlich geschützt wird, was sich nur selbst schützen kann: Kirche braucht vielleicht staatlichen Sukkurs, der Glaube aber bleibt dadurch nicht lebendig. Ich bin für eine strikte Trennung von Kirche und Staat. Und für einen Staat, der die westeuropäischen Ideale eines gemeinschaftlichen Staatswesens über alle religiösen Strömungen stellt.

Es ist dann die Sache aller Bürger, diesen Staat zu pflegen und zu gestalten – mit den Idealen und Vorstellungen, die sie aus Religion und Erziehung und eigener Erfahrung verinnerlicht haben. Wenn der Mehrheit der Menschen ihr Staat nicht gleichgültig wird, dann ist mir um diesen Staat nicht bange. Er wird genügend Bürger haben, die sich einmischen wollen.

Ich mag nicht einmal einstimmen in die harsche Kritik und die Vorwürfe, welche man an den Atheismus richtet. In der Zeit No. 37 schreibt Sam Harris (Titel: Gern auch mal Ekstaste) gegen 10 Vorwürfe an, die nach seiner Beobachtung dem Atheisten immer wieder begegnen.
Unter anderem seien Atheisten arrogant. Darauf antwortet er:

Eine kolossale Ironie des religiösen Diskurses ist der Stolz gläubiger Menschen auf ihre Bescheidenheit, während sie zugleich ein endgültiges Wissen über kosmologische Welttatsachen beanspruchen.



Meine Antwort: Ja, ich versuche bescheiden zu sein. In der Demut liegt eine grosse Kraft. Ich bin immer wieder berührt vom Bewusstsein, als Mensch geliebt zu werden, gottgewollt zu sein. Aber nichts macht mich so glücklich wie das Wissen, dass dies allen Menschen so gilt. Und genau so, wie ich nicht einstimmen mag in ein “du musst” gegenüber Anhängern anderer Philosophien und Glaubenslehren, genau so wenig brauche ich ein endgültiges Wissen über die Fragen, wie die Erde, geschweige denn die Welt entstanden sein mag und wie sie enden wird. Mich interessiert mein eigener Gang. Woher ich kam und wohin ich gehe. Und ich betrachte es als Herausforderung wie als Segen unserer Zeit, dass wir noch nie so viele Möglichkeiten hatten, einander zu fragen: Wie beantwortest du, Freund, dir diese Fragen? Ich brauche weder Allwissenheit noch Gewissheit. Ich brauche nur meinen Leitfaden, der mir immer wieder Orientierung sein kann. Und ich brauche Liebe, göttliche Güte, Zuneigung, die ich verschenken kann, meinem Innersten folgend.

Harris weht sich gegen den Vorwurf, Atheisten wollten nicht sehen, wie vorteilhaft Religion für eine Gesellschaft ist:

Was ist moralischer: Den Armen zu helfen, weil mich ihr Leid empört, oder weil ich glaube, dass Gott mich für meine Milde belohnen und für Hartherzigkeit bestrafen wird?



Mir geht es so: Für Hartherzigkeit werde ich jeweils sehr direkt und sofort bestraft. Ich fühle mich dann peinlich klein und jämmerlich, und ich brauche keinen Gott, um mir das sagen zu lassen. Es ist nicht in mir, es ist in uns allen nicht angelegt, mit einer solchen Haltung glücklich werden zu können. Aber das will wohl Harris genau sagen damit, also, auch als christlicher Mensch, absolut einverstanden. Nur die Meinung ist falsch, Christen würden ihr Verhaltne berechnend pflegen, um später belohnt zu werden.
Nein, ich empöre mich sofort über gewisses Leid (und unsere Ursachen dafür), und das genügt völlig zur Hilfe. Das Beispiel Jesu ist das eines Menschen, der sofort helfen will, ganz praktisch, ohne Kalkül.
Quintessenz: Atheisten sind nicht ohne Moral, und Christen sind nicht moralisch integer, nur weil sie damit beim jüngsten Gericht Ablasshandel betreiben können. Mit Verlaub: Den Handel werde ich ganz bestimmt nicht erfolgreich gestalten können, wenn auf der Gegenseite nicht ein sehr milder Richter sitzt. Im Jetzt aber genügt es mir völlig, in einem bestimmten Moment am richtigen Ort zu sein – und da bleiben und wirken zu sollen. In einer konkreten Hilfe, in einem Gespräch, in ein bisschen investierter Zeit. Mein Lohn? Ist sofort da. Wie für jeden anderen Menschen auch.