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Ambivalenz gegenüber Pädophilen?

∞  9 August 2008, 14:26

Ein bekennender Pädophiler wird Kirchenverwaltungsrat und Aktuar einer Pfarrei. – Zeichen der Toleranz oder Symptom einer inneren Kirchenproblematik?




In einem Bericht auf sf-tagesschau-online lese ich von einem bekennenden Pädophilen, der neu als Kirchenverwaltungsrat und Aktuar der Pfarrei St. Johannes in Murg (SG) tätig ist und die Website der Pfarrei betreibt – sowie eine eigene Pädophilen-Webite. Auf letzeter macht er offenbar kein Hehl aus seinen Neigungen und verteidigt ausführlich die Gefühlswelt von Pädophilen, während er den Umgang der Medien mit seinesgleichen scharf kritisiert, wie der Blick schreibt. Beat Meier, einer der schlimmsten Kinderschänder der Schweiz, der jahrelang seine Stiefsöhne missbraucht hat, ist nach dem neuen Kirchenverwaltungsrat ein Opfer eines Justizirrtums.
Der Kirchenratspräsident hat mit alledem kein Problem. Er weiss, dass der Mann zu seiner Veranlagung steht, dass die Bevölkerung es auch weiss, hält er hingegen nicht für nötig. Die wurde vor der Wahl des Mannes nicht informiert. Man kann es ja auch übertreiben mit der Information, denn schliesslich hat sich der Mann nix zuschulden kommen lassen.
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So weit, so skandalös. Doch was mich weit mehr beschäftigt, ist der Tenor in vielen Kommentaren zum Artikel, die allerdings in der Zwischenzeit gesäubert wurden.
Darin war erstaunlich viel Nachsicht mit dem Verhalten der Murger Kirchenoberen auszumachen, samt Sympathie mit dem Mann, der offen zu seinen Neigungen stehe und schliesslich auch keine Straftat begangen habe.
Wie soll man den ganzen Vorfall nun wirklich werten?
Gilt das Prinzip der freien Berufswahl und Ausübung von Ämtern nach der Unschuldsvermutung für Jedermann in allen Positionen? Lindert bzw. beseitigt das freie Bekennen zu einer Neigung die gesellschaftlich angebrachten Vorbehalte gegenüber solchen Personen?
Wenn ein Pädophiler in seiner Neigung selbst kein Problem sieht, sondern seine Gefühlswelt als harmonisch und intakt empfindet , das öffentlich kommuniziert, sich also immerhin der Diskussion stellt, ist denn damit genügend gewährleistet, dass er sich nach den Regeln dieser Gesellschaft auch tatsächlich verhält?
Wir alle lieben Kinder. Aus dieser schwammigen Erkenntnis wächst oft ein Gefühl, scheinbar zu “verstehen”, was in einem Pädophilen vorgeht. Und es ist auch ein Grund dafür, dass Pädophile oft tief in sich das Gefühl kultivieren, ihre Regungen wären durchaus natürlich.
Das Verhalten der Kirchenverwaltung in Murg zeigt die üblichen Differenzen, wenn es um die Gewichtung verschiedener sexueller Neigungen geht. In einem Kommentar wurde es sinngemäss sehr schön festgehalten:
Pädophilie wird ganz offensichtlich ganz regelmässig “natürlicher” gesehen als Homosexualität oder Sex vor der Ehe, geschweige denn eine Scheidung. Ein Treffen zwischen Pfarrer und Kind scheint auch deutlich weniger problematisch zu sein als eines zwischen reformierten Pfarrern (und Pfarrerinnen!) und katholischen Priestern…
Da ist viel Bitterkeit zu spüren und Resignation. Und sie kann leicht aufkommen. Doch dann will man sich auch wehren, wenn man selbst Menschen kennt, die unter sexuellem Missbrauch als Kind bis heute leiden und denen es den Magen umdreht, wenn sie von der Kirche in Murg lesen. Und dabei geht es nicht nur um den neuen Aktuar der Pfarrei. Es geht um den vermissten Schutz, der wieder erlebt und gefühlt wird. Man war allein mit der Situation und ist es, solche Berichte beweisen es, irgendwie immer noch.
Verbrechen stellen die Gesellschaft immer auf eine Probe: Eine Straftat muss gesühnt werden – und irgendwie am Ende auch vergeben. Opfer aber müssen auch dann mit der Tatsache fertig werden, schutzlos gewesen zu sein. Dazu bleibt auch noch haften, sich immer wieder erklären zu müssen, unverstanden zu bleiben, ganz abgesehen davon, dass man höchstens mit anderen Opfern teilen kann, was man erfuhr. Sie wünschen sich nichts so sehr, wie doch “normal sein zu können” – oder es wieder zu werden. Normal empfinden, normale Sicherheit, Anerkennung fühlen, frei von jedem Stigma.
Wenn ein bekennender Pädophiler frei von solchen Nöten ist, so mag man das verstehen oder nicht. Eltern werden hierzu bestimmt eine eigene Meinung haben…


[Blidquelle: swissinfo mit weiterem Artikel zum Thema: Verjährung für pädophile Taten soll bleiben]


Update vom 11. August, 19h05:

Sex mit 15-jährigem Jungen zugegeben



Mittlerweile ist im Blick eine Nachfolgestory erschienen. Darin wird auf einen Text in der Taz aus dem Jahre 2002 verwiesen, in dem der Mann portraitiert wird – und dieser eine sexuelle Beziehung eingesteht, die er als 43-jähriger mit einem 15 jährigen Jungen eingegangen ist (den er schon kannte, seit dieser zehn war) – und die zwei Jahre gedauert hat.

Er habe schon immer Jungen in der Nähe gehabt und sei in einen verliebt gewesen. Auch die Buben hätten ihn zärtlich geliebt, heisst es schon zuvor.

Wie gesagt, das allergrösste Problem ist das fehlende Unrechtsbewusstsein: Es wird spätestens jetzt für alle, die unter solchen Konstellationen schon gelitten haben, zur Qual, solche Dinge nur lesen zu müssen.

Und hier ist einer längst in einer selbstgerechten heiligen Mission unterwegs, wenn er sagt, anscheinend vom Blick aus einem Brief an den Dorfpfarrer zitiert (der ihn, immerhin, zum Rücktritt aufgefordert hat):


«Ich steige dir nicht auf den Opferaltar». Er werde sich aber dem Volk stellen. «Wenn es mich steinigen will, dann mag es Gottes Wille sein.»


Und darum ist hier in dieser Form auch Schluss. Einfach aufhören zu phantasieren, Leute. Und nicht mehr darüber diskutieren, ob ein Pädophiler denn auch pädophil werde. Sondern allenfalls darüber, wie schädlich das tatsächlich ist. Dann ist nämlich die Gesellschaft als Ganzes gefragt und damit ihre Bereitschaft, einem solchen Tun entschlossen entgegen zu treten oder schwammig von guten Absichten der Betroffenen auszugehen…




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auch für Abgrenzungen muss man einstehen



Nachtrag: Der Artikel Idaplatz ist in die Sektion “ERZÄhlt” verschoben worden.