Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


Alte lebendige Geschichten

∞  19 Oktober 2010, 20:49

Was uns je länger je mehr fehlt, sind die Geschichten der älteren Generationen. Immer seltener bekommt man erzählt, “wie es früher war”:

Wir leben nicht mehr mit mehreren Generationen unter einem Dach. Was früher war, ist ein Lächeln wert, im besten Fall vielleicht ein wohlmeinendes, aber nicht mehr. Und wenn wir sie hören, diese Geschichten, dann oft nur, weil wir ihnen nicht ausweichen können. Im Altersheim, das immer mehr schon ein Pflegeheim ist, verstummen diese Geschichten auch schon rar geworden, vernebelt, verdunkelt, verdüstert in Demenz und Lethargie.

Dabei steckt so viel Farbe darin, so viel Grund zur Neugier und Demut: Denn das alte Leben, die früheren Lebensumstände, sie mögen vergangen sein, aber wie kurz her ist denn diese Vergangenheit – und wie schnell wird unsere Gegenwart auch dazu gehören?

Ein Mehrbettzimmer in einem Spital ist so ein Ort, an dem solche Geschichten herum gereicht werden. Und sie haben eine ganz besondere Echtheit, denn sie sind Teil einer Erinnerung von Menschen, die in ganz besonderer Weise auf Ihr Leben sehen und oft beispielhaft dabei zeigen können, dass ihre Weise, die Welt zu sehen, erdiger ist als diejenige der jüngeren. Erdiger, bodennaher, bescheidener auch, gezeichnet von einer Denkweise, die im besten Sinn des Wortes noch einfacher bleibt, und mit weniger Worten auskommt. Dazwischen gibt es Luft und Raum für Pausen und stille Gedanken, und im Erzählen steckt gleichzeitig so viel Zeugnis von entbehrungsreichen Leben.

Und so denke ich gerade nochmals an den Melker, der in Zürich ankommt, mit dem ledernen Rucksack, dem gekrümmten Beinen und dem Buckel von der Mühsal seiner Arbeit, und ich sehe ihn durch die Zürcher Bahnhofshalle gehen, die Pfeife im Mund, vor dreissig Jahren schon ein Urgewächs aus der Vergangenheit, und wie er dann hinaus tritt auf die für ihn so fremde Bahnhofsstrasse, ragen die Läufe des tagsüber im Gebirge geschossenen Hasen aus dem Rucksack, und sie zeigen steil hoch über seinen Scheitel, geradewegs in den den Himmel…

Oder ich sehe noch einmal eine Mutter am Waschzuber stehen am Samstag, DEM Waschtag für Mensch und Kleider, wenn das blubbernde Wasser über dem geschürten Feuer für alle und alles reichen musste und Wäsche waschen kein Knopfdruck sondern Schwerstarbeit war, mit Leintüchern, die schon trocken viel schwerer waren als heute… Ich rieche den Flammkuchen, den es zu Mittag gab, mit dem eigenhändig von den Kindern abgeschöpften Rahm, ein paar Zwiebeln und vielleicht noch irgend einem Nichts darauf, und doch war es ein Fest, das uns Appetit macht beim Zuhören, lange, bevor wir unter fünf Menus auswählen…