Mein Schreiben. Täglich.

Teilen Sie mit mir unbeschwerte und schwere Gedanken in Prosa oder Lyrik und versuchen Sie, Grau in Blau zu verwandeln - unter welchem Himmel auch immer.

Mir fällt das oft selbst schwer genug...


2010-03-03: Tagebuchgedanken zur Entfremdung

∞  3 März 2010, 09:35

09h36
Von kleinen Kindern heisst es in unserem Dialekt manchmal:
“Är (oder sie) fremdelet äs bitzli”, womit man die Scheu des Kindes vor fremden Menschen meint.
Als ich mich dazu entschloss, meine beruflichen Schwerpunkte zu verändern, die Ziele zu verschieben, weniger auf Anerkennung versprechende Dinge zu setzen und dafür vor allem Zeit für mich zu gewinnen, war ich sehr gespannt, wie sich das auswirken würde in mir selbst. Im vierten Jahr (unglaublich, wie die Zeit rast) meiner persönlichen Neuorientierung stelle ich fest, dass ich “fremde”. Es ist dies der Aspekt, den ich am wenigsten vorausgesehen habe, vor allem in seinen Auswirkungen: Immer mehr schaue ich ungläubig auf die Welt, immer kritischer betrachte ich sie, und statt dass ich aus meiner Ruhe gelassen darauf reagiere, enerviert mich alles über Gebühr und ich könnte wahnsinnig werden ob der Tatsache, wie leicht viele Menschen vieles hinnehmen – und mit wie wenigen Werten sie auskommen.
Was mich schmerzt, und das bin ich mir sehr wohl bewusst, muss anderen als reiner Hochmut erscheinen. Wer nicht das Gefühl hat, selbst etwas bei sich ändern zu können, wer vor allem wirtschaftliche Zwänge kennt, mag sagen: Du hast leicht reden. Ja, stimmt. Und doch, wir haben nur dieses eine Leben. Und eigentlich müsste es uns doch viel, viel mehr wert sein. Und wenn ich jetzt in der Wir-Form schreibe, dann mit Absicht. Denn auch dies ist eine Folge meiner vorhandenen Zeit: Man bekommt genügend Gelegenheiten, um zu erkennen, wie viel Leerlauf oder ungewollte Leere im eigenen Leben vorhanden ist…