Mein Schreiben. Täglich.

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Mir fällt das oft selbst schwer genug...


10 Minuten Mut zu Schreibwut: Aufmerksamkeit

∞  29 April 2008, 17:07

Eine Tochter ist 24 Jahre lang die Gefangene ihres Vaters, ein Mädchen bleibt acht Jahre in den Händen eines unscheinbaren Mannes – die Geschichten dieser Tage sind der blanke Wahn, die Apokalypse der Menschlichkeit, unfassbar in ihrer Einzigartigkeit und doch irgendwie Mahnmal für ein Verhalten, das wir unter uns und an uns selbst beobachten können.

Ein Arbeitsloser steht unbeobachtet an der Ecke des Einkaufszentrums und versucht, ein Magazin zu verkaufen. Wie sehr habe ich selbst den Blick trainiert, der alles fixiert, nur nicht diesen Mann, wenn ich vorbei gehe.

Die Nachbarin im unteren Stock – niemand hat sie je so genau gesehen, scheint es. Das schiefe Gesicht im Tram – wir meiden es. Wir sehen nicht hin. Und das mit System. Wir gehen sogar so weit, dass wir das taktvoll nennen und glauben den Quatsch auch noch. Wir lassen alle ihr Leben leben und sagen dabei vor allem eines: Lasst mich selbst in Ruhe.

Wir sehen nicht hin. Aber wir glotzen, wenn ein Unfall geschehen ist. Wir sind Passanten, wenn eine Frau belästigt wird, und wir versuchen auf Schritt und Tritt, so sehr weg zu sehen, dass wir den Grund dafür schon gar nicht mehr erkennen und damit auch weniger ein schlechtes Gefühl dabei haben. Wir haben immer etwas Wichtigeres zu tun.

Aber indem wir diese Technik des Wegsehens so sehr verinnerlicht haben, sehen wir gar nichts mehr. Die Tulpen vor dem Fenster beginnen ohne uns zu blühen, die Ritzen im Mauerwerk werden von kleinsten Pflanzen geweitet, aber wir haben es nie beachtet.

Im Rinnstein schwimmt ein Papierfötzelchen, als wär’s ein Mississippi-Dampfer – aber wir bemerken es nicht, denn es ist beschissenes Wetter und wir hasten vorwärts. Im Gulli rauscht das Abwasser, als stünde man an einem Gebirgsbach. Wir aber hören nichts als das Rollen nasser Reifen auf der Strasse. Die Geräusche mahlen in unseren Ohren wie feinste Kieselsteine, die sich an einander reiben. Seit Wochen haben unsere Füsse keine Erde berührt. Was schreibe ich! Seit Monaten. Wir leben, weil wir atmen. Nicht weil wir einatmen.

Die Sonne fühlen wir, weil wir geblendet werden, womöglich beim Autofahren. Es ist, als sässen wir ständig in einer Kiste, haben immer einen Zaun um uns, eine Mauer, Grenzen, bis hierher und nicht weiter.

Aufmerksam sind wir, wenn es darum geht, bestätigt zu sehen, was wir eh zu wissen glauben. Das braucht viel weniger Energie als die Beachtung des Neuen, Unvertrauten, des unsicher machenden Phänomens.

Wissen Sie noch, wie das war, als Kind? Wie wenig es brauchte, dass man seine Geschichte zu spinnen begann, ja dass man sie lebte, in sie versank, zum Helden wurde. Was haben wir Weniges gebraucht, um unsere Phantasie in Gang zu setzen, und nichts war uns zu gross, es nicht mindestens zu denken. Und unsere Augen waren geöffnet, die Lider nicht schwer. Wir wurden nur müde, weil wir zu viel sahen, ganz bestimmt nicht, weil uns alles grau erschien.

Und wir, als Kind, haben hingesehen, im Tram. Mit offenem Mund. Wir hätten vielleicht gar bei der Frau im unteren Stock durchs Schlüsselloch gelinst, und durch des Nachbars Zaun gesperbert. Kindern entgeht nichts. Am wenigsten unsere fehlende Aufmerksamkeit.

Verarbeitung von 10 Minuten Brainstorming auf schreibmut.twoday.net

[Bildquelle: Aus einem sehr bedenkenswerten Artikel bei alles-was-gerecht-ist.de: Aufgepasst: Die Ökologie der Aufmerksamkeit ]